Zum Inhalt springen

Afghanistan: 40 Jahre Krieg für was?

Ich stehe in Berlin-Marzahn in einem kleinen Park umringt von Plattenbauten, am Mülleimer zu meiner Linken ist gut sichtbar eine 88 drauf gesprüht. Vor einem halben Jahr wurde hier ein Gedenkstein eröffnet. Auf ihm war das Bild einer jungen Frau und ihrer 9-jährigen Tochter zusammen mit der Inschrift „In unseren Herzen lebt ihr weiter“ zu sehen. Ihre Namen waren Homa und Tajala. Am 29.02.2020 wurden sie in ihrer Wohnung ermordet. Der Gedenkstein wurde vor einigen Wochen zerstört. Es gibt offensichtlich Menschen hier in der Gegend, denen das Erinnern nicht passt.

Homa und ihre Familie sind 2014 aus Afghanistan geflohen. So wie für Millionen anderer Afghan:innen ist ihre Heimat seit langer Zeit nicht mehr sicher gewesen. Seit über 40 Jahren herrscht Krieg in Afghanistan. Seit über 40 Jahren leisten sich imperialistische Kräfte einen Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft der Region.

Krieg, Bürgerkrieg und die erste Machtergreifung der Taliban

Im Jahr 1978 begann der Krieg mit der Übernahme der damaligen Regierung durch sowjetnahe Kräfte. Die neue afghanische Regierung hatte sowohl interne als auch externe Feinde: Die politisch-islamischen Kräfte, die ihre Vorherrschaft zurückerlangen wollten, und die USA, die Angst vor einer Angliederung Afghanistans an die Sowjetunion hatten, machten sich einen erneuten Umsturz zum Ziel. Auch innerparteiliche Auseinandersetzungen destabilisierten die Regierung immer weiter. 1979 startete dann die Sowjetunion eine Invasion, um den Umsturz zu verhindern, dies machte die Regierung jedoch nur noch unpopulärer und die USA begannen die Kräfte der politisch-islamischen Mudschahedin im militärischen Kampf gegen die Sowjetunion und die afghanische Regierung aufzubauen und zu unterstützen. Diese de facto Söldnertruppen der USA leisteten sich blutige 10 Jahre lang einen Krieg mit der von der revisionistischenSowjetunion unterstützen Regierung. 1989 zog sich die Sowjetunion geschlagen aus Afghanistan zurück.

Der Krieg war damit aber nicht vorbei. Es folgte ein Bürgerkrieg und 1996 gelang es schließlich den Mudschahedin, die inzwischen den Namen „Taliban“ trugen, ihre Vorherrschaft zu sichern und eine eigene Regierung aufzubauen.

Einmarsch der NATO

Der Afghanistankrieg begann Anfang Oktober 2001 mit Luftangriffen auf Kabul und Kandahar: die Vergeltung der USA für den 11. September. In dieser Nacht brannte Afghanistan wieder und weitflächig fiel der Strom aus.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begannen die USA mit ihrem „Krieg gegen den Terror“, der die gesamte Region des Mittleren Ostens erneut ins Chaos stürzte. Auch Afghanistan ist eine Zielscheibe gewesen, denn die Taliban hattenVerbindungen zur Attentätergruppe „Al-Qaida“, die die Anschläge ausgeführt hatte. Mit dieser Begründung marschierten die USA nach ihrem Bombardement mit der Unterstützung der NATO in Afghanistan ein und stürzten innerhalb kürzester Zeit die Regierung der Taliban. Es wird eine neue Regierung installiertund Wahlen werden durchgeführt. Immerhin hatten sich die USA zu beginn ihrer Besatzung „Demokratie und Menschenrechte“ auf ihre Fahnen geschrieben. 2003 formierten sich die Taliban in Pakistan jedoch neu und nahmen erneut den militärischen Kampf gegen die diesmal von den USA installierte Regierung auf.

20 Jahre Krieg und Besatzung

Seit 20 Jahren herrscht in Afghanistan ein Krieg, vor allem gegen die Zivilbevölkerung: Über 200.000 Menschen starben an den direkten Kriegshandlungen. Die vielen Kriegsfolgen wie mangelnde Ernährungs- und Medikamentenversorgung sind hier nicht einmal mit einberechnet worden. Außerdem befinden sich Millionen Afghan:innen auf der Flucht weitab von ihrer Heimat.

In kaum einem Land waren so viele ausländische Truppenstationiert wie in Afghanistan. Der Höhepunkt war 2012: Damals waren fast 130.000 Soldaten aus 50 verschiedenen Ländern in Afghanistan. 10 Jahre nach Beginn des Krieges beschloss man die „Afghanisierung“ der Kriegsführung. Man wollte die eigenen Truppen abziehen und Ausbilder:innen da lassen, die die afghanische Nationalarmee und Polizei trainieren. Währenddessen gingen die Luftangriffe von massenmörderischen Ausmaßen weiter. Bekannt ist zum Beispiel der Abwurf der „Mutter aller Bomben“, der größten nicht atomaren Bombe der US Armee, im Jahre 2017. Von den Schäden dieser Luftangriffe wird das Land noch lange brauchen, um zu heilen. Zeitweise wurden allein von den USA 20 Bomben am Tag über Afghanistan abgeworfen.

Deutsche Soldaten in Afghanistan

In Afghanistan fand außerdem der größte Auslandseinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Von Anfang an hat sich Deutschland an der Besatzung beteiligt. So ziemlich alle bürgerlichen Parteien, die sich heute als große Menschenliebhaber:innen hinstellen, wie z.B. die Grünen oder die SPD haben diese Entscheidung unterstützt. Auch wenn es offiziell nicht als Kriegseinsatz galt, beteiligte sich die Bundeswehr an Kampfeinsätzen. Die mörderische Politik der Bundeswehr bewies sich 2009 in Kundus, wo der deutsche Oberst Klein einen Luftangriff auf zwei Tanklaster verordnete. Diese waren zuerst von den Taliban geklaut und dann zurückgelassen worden. Zur Zeit des Luftangriffs hatte sich die lokale Bevölkerung um die Tanklaster gesammelt. Als die Bomben fielen starben mehr als 100 Menschen, die meisten Zivilist:innen, darunter auch viele Kinder. Eine Verurteilung dieses Verbrechens gab es nie. Auch die Klagen der Hinterbliebenen auf Schadensersatz wurden abgelehnt. Laut Gericht wurde jetzt genug aufgeklärt.

Erst diesen August wurde, nachdem die Taliban schon vor den Toren Kabuls waren, ein Abschiebestopp eingelegt. Davor hat Deutschland immer weiter Tausende von Menschen zurück in den Tod geschickt. Deutschland schob ohne Reue weiter in ein Land ab, an dessen Zerstörung es sich selbst beteiligte.

Verhandlungen mit den Taliban und der Abzug der NATO

2020 schlossen die Taliban und die USA ein Friedensabkommen. Die NATO-Truppen sollten innerhalb von 14 Monaten das Land verlassen. Seit dem die Anzahl der Besatzertruppen 2014 zurück geschraubt wurde befand sich die NATO schon in der Verteidigung. Vielerorts herrschte eine Art Doppelregierung:tagsüber die NATO und die afghanische Regierung, nachts die Taliban. Es gelang ihnen einzig und allein Kabul, die Hauptstadt, kontinuierlich zu halten.

Das Friedensabkommen bedeutete nicht ein Ende des Krieges, da lediglich die USA und die Taliban an den Gesprächen beteiligt waren. Weitere innerafghanische Friedensgespräche sollten noch stattfinden. Diese waren eine der Bedingungen für den Rückzug der USA, außerdem sollten sie zustimmen andere politisch-islamische Gruppen wie den IS und Al-Qaida zu bekämpfen. Diese Gespräche wurden aber nie beendet und der Abzug begann schon früher.

Der Abzug der NATO – Sieg der Taliban

Taliban Milizsoldaten

2020 haben die USA eingestanden, dass ein militärischer Sieg der NATO in Afghanistan nicht mehr möglich ist. Mit dem Rückzug der Besatzertruppen nahmen die Taliban in Windeseile immer mehr Land ein. Innerhalb weniger Monate sind alle wichtigen militärischen Stützpunkte der Regierung gefallen und immer mehr Soldaten desertierten: Die Aussicht war klar. Die Taliban haben gewonnen und werden ihre Herrschaft in Afghanistan erneutetablieren. 20 Jahre Krieg und Besatzung für nichts außer noch mehr Zersplitterung und Festigung der Herrschaft durch Waffengewalt.

Die Taliban haben gesiegt

Am 16.08.2021 nahmen die Taliban Kabul ein. Der von den USA unterstützte Präsident Ashraf Ghani verkündete auf Facebook das er das Land verlassen hat, nur wenige Stunden später waren die Taliban im Präsidentenpalast. Ihre Macht ist wiederhergestellt, diesmal stärker denn je. Die übrig gebliebenen ausländischen Kräfte und ihre Helfer:innen sammeln sich am Flughafen in Kabul, um das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Das Motto heißt „rette sich wer kann“. Momentan sichern noch insgesamt 6.000 US-Soldaten die Ausreise. Immer mehr Bilder von Menschen, die sich verzweifelt versuchen an Flugzeugen festzuhalten kursieren im Netz, genauso wie Bilder von US-Soldaten, die auf die verzweifelten Menschen schießen, wenn sie versuchen die Flugfelder zu stürmen.

Durch den überstürzten Abzug wurden die moderne Ausrüstung, Waffen, Technologie, Fahrzeuge, usw. zurückgelassen, jetzt posieren die Taliban auch damit auf ihren Siegesbildern.

Was den Sieg der Taliban noch weiter beflügelt hat, war auch,dass die afghanische Regierung seit ihrer Machtübernahme abhängig von den USA und anderen imperialistischen Kräften war. Durch Subventionen und militärische Abriegelung konnten zwar einige Freiheiten, besonders für die Eliten im Land, ausgebaut werden, die breite Masse aber, also die Landbevölkerung, hat davon so gut wie nichts gesehen.

Es wurde also der Macht der Taliban nie die Grundlage entzogen und es ging auch nie darum. Für die USA war nie wichtig ob bürgerlich-demokratische oder politisch-islamische Kräfte an der Macht sind. Erst haben sie die Taliban, bzw. die Mudschahedin unterstützt, dann sie bekriegt und jetzt ihnen Friedenszugeständnisse gemacht. Das was wichtig für die USA und auch für die NATO war ist: Sind ihre Interessen geschützt oder nicht und heute ist nun mal der Abzug in ihrem Interesse.

Das Nachspiel

Der Regimewechsel wird in der gesamten Region weitreichende Folgen haben. Nicht nur bietet ein politisch-islamisches Afghanistan einen Raum für Al-Qaida und andere politisch-islamische Milizen sich neu zu gruppieren zurückzuziehen, denn auch die Vormachtstellung der USA hat einen weiteren Rückschlag erlitten. Russland und China haben sich bereits um Afghanistan herum positioniert. Sie werden ihre eigenen imperialistischen Machtspiele in der Region spielen und aufpassen die Fehler der US-Regierung nicht zu wiederholen. Auch die Türkei streckt ihre Hände nach Afghanistan, gerade sie hat ein Interesse an einem politisch-islamischen Afghanistan, das bereit ist mit ihnen zu kollaborieren.

Die Bedeutung des Regimewechsels für Frauen und religiöse und ethnische Minderheiten im Land ist unvorstellbar. Unter der Herrschaft der Taliban sind ihre Leben und Existenzen bedroht. Heute weiß keine Frau, ob sie morgen noch in die Schule, zur Arbeit oder überhaupt alleine auf die Straße gehen kann. Auch wenn die Taliban einige Versprechungen gemacht haben wie z.B.,dass Frauen zur Schule gehen können, brechen sie sie vielerorts schon wieder. Die religiösen Minderheiten im Land wie z.B. dieschiitischen Hazara, haben ebenfalls extreme Gewalt und im schlimmsten Fall Auslöschung zu erwarten. Auch die Frage nach den Helfer:innen der Besatzer ist nicht geklärt, seit Jahren werden die Versprechen, die ihnen gemacht wurden, aufgeschoben und Deutschland z.B. weigert sich nach wie vor eine sichere Ausreise für alle zu organisieren.

Auch wenn die direkten Folgen bis jetzt nur schwer abschätzbar sind, ist eins klar: Es gab in den letzten 40 Jahren nur einen wirklichen Verlierer, und zwar das afghanische Volk. Aber durch ein Ende der Besatzung, können wir hoffen, dass von den Rückschritten der Vergangenheit nun das afghanische Volk die Fesseln abwerfen kann, um in die Zukunft zu schreiten. Deshalb ist es jetzt an uns die Frage zu stellen:

Verzweiflung am Flughafen in Kabul (August 2021)

Was nun?

Vor an müssen einige Feststellungen gemacht werden: Es gibt kein sicheres Afghanistan und das hat es in den letzten 40 Jahren auch nicht gegeben, erst Recht nicht unter der Regierung der Taliban. Selbst wenn die Besatzer Afghanistan verlassen haben, wird der Krieg noch weiter gehen. Die reaktionäre Regierung der Taliban kann keinen Frieden bringen, besonders für die afghanischen Frauen ist die Situation kaum erträglich. Das Ende dieser Besatzung war schon lange überfällig und schlussendlich: Die Niederlage der Besatzer beweist, dass die imperialistischen Kriege keinen Fortschritt bringen können. Ein befreites Afghanistan kann nur aus dem afghanischen Volk selbst entstehen und es ist an den Völkern der Welt, sie darin im Geiste des proletarischen Internationalismus zu unterstützen. Während des Vormarsches der Taliban gründeten sich bereits an einigen Orten Volksverteidigungseinheiten, nachdem die afghanische Armee sie im Stich ließ. Gerade Frauen bewaffneten sich und wollen sich nicht der patriarchalen Herrschaft ergeben.

Über 50 Länder haben ihre Finger in die blutenden Wunden Afghanistans gesteckt, wir als Revolutionär:innen in imperialistischen Zentrum haben jetzt die Aufgabe nicht nur die Finger auf die Verantwortlichen zu zeigen, sondern auch hier aktiven Widerstand gegen sie zu leisten. Wie das konkret aussehen kann, wissen wir schon aus den letzten Jahren:

Solidarität mit dem afghanischen Volk heißt die Auslieferung und Ermordung durch Abschiebungen zu verhindern, es heißt die Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen und vor allem heißt es einen erneuten Einsatz, eine erneute Besatzung, zu verhindern.
Deutschland und alle imperialistischen Besatzer müssen Afghanistan ein für alle mal verlassen.

Wir sehen an Homa und Tajala, dass auch Deutschland kein sicherer Ort für Afghan:innen ist. Auch hier heißt es mit afghanischen Menschen, und vor allem afghanischen Frauen, unsere Kämpfe gegen Rassismus, Ausbeutung und Patriarchat Seite an Seite zu führen.

Internationalismus bedeutet die bürgerlichen Grenzen aufzubrechen, um uns weltweit als Unterdrückte und Ausgebeutete zu vereinen. Es heißt nicht die Interessen des einen dem anderem aufzuzwingen, sondern auf freiwilliger Basis und weil es nicht anders geht, uns zu vereinen. Nur eine gemeinsame Front des afghanischen Volkes aus dem afghanischen Volke heraus und eigentlich den Völkern des gesamten Mittleren Ostens, wird die Kraft zu wahrer Demokratie und der Durchsetzung der Würde und Rechte aller Menschen in der Region haben, besonders die der Frauen. Nur ein solches Bündnis kann die imperialistischen Machenschaften genauso wie die Herrschaft dessen Kind, der politisch-islamischen Reaktion, zerschlagen.

Unsere Parole lautet wie schon vor 150 Jahren:

„Proletarier aller Länder vereinigt euch, wir haben nichts zu verlieren außer unserer Fesseln, wir haben eine Welt zu gewinnen!“