„Es ist keine Schande, ein Tahir oder eine Zühre (1) zu sein,
und es ist auch keine Schande, für die Liebe zu sterben,
das Ganze ist das Können, Tahir und Zühre zu sein,
kurzum, das Ganze ist im Herzen
Zum Beispiel beim Kampf an einer Barrikade
zum Beispiel bei der Erkundung des Nordpols
zum Beispiel beim Versuch eines Serums in deinen Adern
Ist es eine Schande zu sterben?
Es ist keine Schande, ein Tahir oder eine Zühre zu sein,
und es ist auch keine Schande, für die Liebe zu sterben“
– Nazım Hikmet
In der vierten Ausgabe der trotzkistischen Zeitschrift „Son Kavga“ (Letzter Kampf) fand ich die Artikelserie „Wer ist ein:e Revolutionär:in von Beruf, wen kann man so nennen?“. In dem Teil des Artikels „Ist es für Revolutionär:innen fremd, Liebe auszudrücken?“ steht Folgendes: „Revolutionär:innen, die Vorkämpfer:innen der Arbeiter:innenklasse, erwecken in allen Köpfen die Begriffe Kampf, Krieg und Schlacht. Um als Revolutionär:in den Begriff „Liebe“ zu erwecken, um eine Beziehung zwischen dem/der Revolutionär:in und der Liebe herzustellen, muss man sich Gedanken machen. Diese Beziehung, die selbst für jemanden auf der Straße unauffindbar ist, ist auch in den revolutionären Reihen schwer zu finden. Für die Militanten der revolutionären Gruppen wird das Nebeneinanderstellen der Begriffe Liebe und Revolutionärsein bestenfalls als ein Fehler, eine Schwäche, eine Weichheit angesehen, die es zu überwinden gilt. Revolutionär:innen können sich nicht mit Liebe identifizieren und verbinden dies mit den reformistischen Teilen der revolutionären Bewegung. In unserer Gesellschaft, die die typischen Merkmale östlicher Gesellschaften aufweist, ist das Verhaltensmuster der Zurückgezogenheit bei Männern und Frauen, das Unbehagen, Gefühle auszudrücken, und die Vorstellung, dass das Ausdrücken von Gefühlen ein Hindernis für Stärke ist, das vorherrschende Verhaltensmuster und die Denkgewohnheit.“
Die Feststellung, dass militante Revolutionär:innen die Liebe als Weichheit, Schwäche, als ein zu überwindendes Hindernis ansehen, wird nach dem 1980er Putsch oft erwähnt. Daher ist die Feststellung des Autors, dass „Revolutionär:innen sich nicht mit Liebe identifizieren können und diese mit den reformistischen Teilen der revolutionären Bewegung verbinden“ auch nichts Neues und erinnert an den bekannten Vorwurf. Was meint der Autor damit? Sinnliches Vergnügen? Wahrscheinlich nicht. Ist es Liebe? Vielleicht… Wenn er von den weiblichen und männlichen Denkgewohnheiten in östlichen Gesellschaften spricht. Ist es dann nicht so, dass der qualitative Unterschied zwischen „Unbehagen durch den Ausdruck von Liebe“ und “ die Liebe nicht mit sich selbst assoziieren“ übersehen worden ist?
Wenn ich diesen Artikel nicht nach dem Geschichtenwettbewerb des MKM (Mezopotamya Kültür Merkezi – Mesopotamisches Kulturzentrum) gelesen hätte, würde ich wahrscheinlich nicht so viel darüber nachdenken. Die Geschichten im Wettbewerb sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Und für mich sehr lehrreich. In den Geschichten geht es um den Schmerz, die Wut, die Leidenschaft für Freiheit und Unabhängigkeit eines Volkes, das sich erhoben hat. Es gibt Widerstand und den Willen, trotz allem aufrecht zu bleiben. Rachegelüste, Opfergeist, Liebe zu Heimat und Genossen, Vertrauen in die Guerilla… All das ist spürbar, beobachtbar… Der Hass ist sehr groß, die Verherrlichung des Todes ist eine Tendenz. Es scheint unmöglich zu sein, dass sich Geschwisterlichkeit inmitten solcher Gräueltaten entwickelt. Und das ist sehr nachvollziehbar. Aber es fehlt etwas in den Geschichten, das im Hinblick auf den Grad der Bewusstseinsentwicklung der Teilnehmer:innen unangemessen ist. Es sind lieblose Geschichten. Unter Dutzenden von Geschichten gibt es nur vier Geschichten, in denen Liebe erwähnt wird. In den Beziehungen zwischen Männern und Frauen ist das Verhalten „Ich habe nichts Böses in mir“ vorherrschend. Es ist eine Tatsache, dass dieser Punkt ein soziales Tabu ist. Aber das Leben selbst ist nicht so synthetisch! Das Falsche ist, sich diesen Tabus zu beugen, die Liebe mit der inneren Bosheit gleichzusetzen. Aber der Punkt, um den es geht, sind befreite Frauen und Männer. Die Konzepte von „auf die Barrikaden kämpfen“ und „Tahir und Zühre sein“ sind Konzepte, die sich gegenseitig vervollständigen. Es ist möglich, innerhalb des heißen Konflikts, die Erlebnisse zu verschieben. Aber die Gefühle können nicht aufgeschoben werden. Und meine Kritik bezieht sich auf die Welt der Gefühle und nicht auf mehr. Worum es hier geht, ist nicht die Haltung des „Ignorierens“ oder des „nicht Assoziierens“. Hier geht es darum, dass die soziale Empfindlichkeit und vielleicht die Traditionen aller vergangenen Generationen, die lieber „Damenguerilla“ als „Frauenguerilla“ sagen, den dominierenden Platz einnehmen.
Die Tatsache, dass der Ausdruck von Liebe den Revolutionär:innen nicht fremd ist, stammt von einigen unserer Dichter: „Letzten Endes / Das Schlimmste, es wurde uns zum Schicksal / Der Tod, er lädt nicht auf dem Menschen sechs Okka (2) an Gewicht / Schweigen und Warten, schrecklich / Jung sind wir, wie der Gewehrlauf / Und furchtlos / Sehnsucht nach Frieden und Feiern / Nach Schlaf, tief, sorglos, ruhig / Nach uns’rem zweiunddreißigzähnigen Lachen / Nach reichlich Liebe und Essen … Wie viele Male war ich nachts den Tränen nah / Eigentlich, ist uns’re beiderseitige Sehnsucht schön / Und eigentlich kennen wir die Traurigkeit“ (Ahmet Arif)
Aber wenn wir vom Standpunkt der militanten Revolutionär:innen blicken, sollten wir die Liebe nicht in ihrer engen und speziellen Bedeutung betrachten. Im Berufs- oder, wie es hier heißt, „berufsmäßigen“ Revolutionärsein ist die Bereitschaft wesentlich. Und alle Beziehungen, die auf Bereitschaft basieren, werden mit Liebe geführt. So wie Brecht sagt: „Deine Sorg war meine Sorg / Meine Sorg war deine / Hattest du eine Freud nicht mit / Hat ich selber keine.“, müssen militante Revolutionär:innen voll von solcher Liebe und von Freude zum Teilen sein. Der Mensch kann die Sache, an die er glaubt, nicht verteidigen, wenn er sie nicht liebt. Eigenschaften und Werte, die ein:e Militant:e haben sollte: Bescheidenheit, Selbstaufopferung, bedingungslose Verbundenheit, Hingabe, Fleiß und Geduld, Widerstandsgeist … all dies wird durch Liebe gewonnen, genährt und entwickelt. Wie kann es sein, dass Revolution und Liebe nicht nebeneinanderstehen, die Liebe ist doch einer der Grundsteine der sozialistischen Moral. Es ist die Liebe zum Menschen, die Liebe zur Werktätigkeit, die Liebe zum Leben und zum Kampf. Kalinin sagt, dass „die Liebe zur Werktätigkeit eines der Hauptelemente der sozialistischen Moral ist“. Das Kollektiv ist das Produkt des Werkes. Es ist die konkreteste Form von Kampf und Liebe der Revolutionär:innen. Ein:e militante:r Revolutionär:in ist jemand, der das Revolutionärsein zu einem Beruf gemacht hat. Zwischen dem/der militanten Revolutionär:in und dem Kollektiv gibt es eine unerschütterliche Verbindung, die mit Glauben, Bewusstsein und Vertrauen aufgebaut wurde, die Liebe als Zement hat, die sich mit geleisteten Preisen, mit dem Verständnis für ein neues Leben und eine neue Gesellschaft konkretisiert. Weil der Feind das weiß, versucht er zuerst, dieses Gefühl der Liebe und des Vertrauens zu zerstören, das wir in uns tragen und mit Schweiß und Zusammenarbeit vergrößern. Am Anfang ihrer Angriffe auf unsere revolutionären Identitäten wird das Vertrauen und die Liebe der revolutionären Genoss:innen untereinander ins Visier genommen. Sie entwerfen altbekannte Szenarien über die moralische Verdorbenheit von Führungskräften, ihren Egoismus, ihre Rücksichtslosigkeit und vieles mehr.
Der Weg, diesen Angriffen zu begegnen, ist ein starker Glaube, ein kreatives Bewusstsein, Wille, ein genossenschaftliches Solidaritätsgefühl und Liebe. Compañero, camarade, tovarisch, heval… In allen Sprachen der Welt ist das Wort „Genoss:in“ etwas Poetisches. Es beschreibt nicht nur den Weg, den man gemeinsam geht. Es ist auch ein Ausdruck des Potenzials eines Verständnisses für ein neues Leben, das die menschlichen Beziehungen auf der Grundlage des gemeinsamen Teilens und der Kreativität entwickelt und verändert. „Genoss:innenschaft“ heißt, den Schmerz zu teilen, die Freude zu vermehren, die Liebe aufzubauen, das Leben zu organisieren, im Leben zu wachsen.
Der kommunistische Pädagoge Kalinin sagt in einem seiner Artikel: „Um ein:e wahre:r Parteiler:in zu sein, reicht es nicht aus, Agitator:in und Propagandist:in zu sein. Es braucht noch etwas weiteres, nämlich ein revolutionäres Verhalten im politischen, sozialen und sogar im persönlichen Leben“. Die Revolutionierung des persönlichen Lebens geschieht am konkretesten in den einzelnen Beziehungen des täglichen Lebens. Das Revolutionärsein ist die ehrenwerteste Arbeit der Welt. Aber diese Arbeit sollte nicht nur als „Beruf“ betrachtet werden. Ohne den Schmerz des Gegenübers zu hören, ohne die Liebe, die Hoffnung, die Sehnsucht, den Schmerz und das Problem zu teilen, kann man kein Genosse sein. Deshalb gibt es eine produktive Liebe zwischen revolutionären Genoss:innen, die den Liebenden und Geliebten verändert. Diese Liebe wird mit Vertrauen genährt und mit Glauben befruchtet. Die Stärkung der Beziehungen kommt von der Weiterentwicklung der Bestandteile von Liebe und Vertrauen. Die Zusammenarbeit zwischen Menschen, die sich wirklich kennen und lieben, ist immer produktiver. Fehlentwicklungen und Abweichungen werden schneller erkannt, es ist leichter, Lösungen zu erarbeiten und umzusetzen.
Ich glaube, dass die Begriffe Liebe und Revolutionärsein miteinander verwoben sind. Es handelt sich um eine Liebe, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht, die ein Werk des Geistes und des Herzens ist, die mit dem Teilen wächst. Eine Liebe, die nicht im Kampf wächst, oder die nicht den Kampf wachsen lässt, kann nicht dauerhaft sein. Das Hauptelement des revolutionären Kampfes ist der Mensch. Und der zukünftige Mensch wird auf der Grundlage der Tugend des genossenschaftlichen Teilens und der Liebe aufgebaut sein.
Kutsiye Bozoklar war eine sozialistische Intellektuelle und Revolutionärin, die in der Türkei und Nordkurdistan politische Arbeit leistete. Als Teil des revolutionären Kampfes gegen den Faschismus wurde sie bei einer Aktion angeschossen und verletzt und war gezwungen, im Rollstuhl zu leben. Sie setzte ihre politische Arbeit mit ideologischen Texten und Büchern fort, die zu einer Leitlinie für Revolutionäre in der Türkei und Kurdistan wurden. Wir wollen in der kommenden Zeit nach und nach einige ihrer Texte ins Deutsche übersetzen und Euch zur Verfügung stellen.
(1): Tahir und Zühre sind berühmte Figuren in einer anonymen Liebesgeschichte, die zur türkischen Volkskultur gehören. In dieser Geschichte lieben sie sich sehr, aber Zühre’s Vater – der ein König ist – erlaubt ihnen nicht zu heiraten. Schließlich wird Tahir von den Soldaten des Königs ermordet und Zühre stirbt an ihrem Liebeskummer.
(2): Ein Okka war ein Gewichtsmaß, welches im Osmanischen Reich verwendet wurde