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Den Grausamkeiten zum Trotz

Am 04. Mai 1937 begann in der Türkei der zweitgrößte Völkermord ihrer Geschichte: das Dêrsim-Massaker. Die kurdisch-alevitischen Bewohner:innen Dêrsims selbst bezeichnen dieses als Tertele, was auf Kirmanckî/Zazakî so viel wie Untergang und Zerstörung bedeutet.
Diese Zerstörung Dêrsims stellte den Höhepunkt des Homogenisierungsprozesses der Bevölkerung in der türkischen Republik unter Mustafa Kemal Atatürk und seiner Partei der CHP dar. Das Ziel dessen war die Schaffung einer rein türkisch-sunnitischen Nation. Hierbei war die Bevölkerung Dêrsims durch ihre ethnische kurdische und ihre religiös alevitische Zugehörigkeit natürlich gleich ein doppelter Dorn im Auge der faschistischen CHP-Regierung. Besonders, weil es der Bevölkerung Dêrsims aufgrund ihrer gebirgigen Lage möglich war, Autonomie gegenüber dem türkischen Staat zu behaupten. Folglich war es der türkischen Regierung anfangs also nicht möglich, Dêrsim zu assimilieren. Doch dabei würde es die faschistische Türkei nicht belassen. 1934 setzte die Regierung das Besiedlungsgesetz in Kraft: Hiernach sollte eine Zerstörung nichttürkischer und nichtsunnitischer Gemeinschaften verfolgt werden, indem man diese aus ihren Heimatorten in den Westen der Türkei zwangsdeportierte. 1936 betitelte der Gründer und Präsident der türkischen Republik Mustafa Kemal Dêrsim als Wunde und Eiter, welcher gesäubert werden müsse. Seine Worte setzte er auch in die Tat um: Dêrsim wurde in Tunceli (Türkisch für „Eiserne Hand“) umbenannt und über die Provinz wurde der militärische Ausnahmezustand verhängt. Dies setzte die gesamte kurdisch-alevitische Bevölkerung der Willkürlichkeit und Brutalität des türkischen Militärs aus. Doch wie Dêrsim auch jahrhundertelang zuvor ständig Widerstand gegen die Schrecken des Osmanischen Reiches leistete, tat es dies auch hier. 1937 formierte sich ein Aufstand, geführt von Seyid Riza. Die aufständische Bevölkerung forderte das Abziehen des türkischen Militärs aus Dêrsim, nationale und religiöse Rechte und eine Reform der Verwaltung.
Dies war selbstverständlich nichts, was die faschistisch-nationalistische Regierung zulassen würde. Die Antwort auf die Forderung: Tertele, Untergang und Zerstörung. 30.000 bis 40.000 türkische Soldaten marschierten in die kurdisch-alevitische Provinz ein und ermordeten Männer, Frauen, Kinder und Alte. Man erschoss und erstach die Menschen auf brutalste Weise. Schafften es die Menschen vor den Soldaten zu fliehen, wurden sie entweder von Bomben getroffen oder selbst in den Höhlen Dêrsims, in welchen sie Zuflucht suchten, vom Giftgas heimgesucht. Nicht verwunderlich ist hierbei, dass Nazi-Deutschland die Türkei mit dem Giftgas belieferte. Schließlich nahm sich Adolf Hitler höchstpersönlich Mustafa Kemal Atatürk zum Vorbild und bezeichnete ihn als „leuchtenden Stern“. Besonders fasziniert waren die Nazis nämlich von Atatürks Politik der „völkischen Bereinigung“. Nachdem auch der Anführer des Dêrsim-Aufstands Seyid Riza nach einem Hinterhalt von der türkischen Regierung gemeinsam mit seinem Sohn und fünf weiteren Gefährten im November 1937 hingerichtet wurde, war es der türkischen Armee mit nun 100.000 Mann ein leichtes, die Zerstörung des Aufstandes von Dêrsim im Jahre 1938 zu Ende zu bringen. Schätzungsweise geht man von etwa 70.000 Ermordeten, davon überwiegend Frauen und Kinder, aus. Mehr als 100.000 Menschen wurden in den Westen der Türkei zwangsdeportiert, um „zivilisiert“ zu werden. Auch hiervon waren überwiegend junge Mädchen betroffen, welche man an die Familien von türkischen Offizieren übergab oder sie in Internate schickte.
Eine Aufarbeitung hat auch 87 Jahre nach dem Massaker von Dêrsim nicht stattgefunden. Ob sich dies mit einem Wechsel der türkischen Regierung von der AKP/MHP zur CHP, unter welcher der Genozid damals durchgeführt wurde, ändern wird, bezweifeln wir als Sozialist:innen. Vielmehr kommt es auf uns an den Geist des Widerstands, den die Bevölkerung Dêrsims immer und immer wieder, allen Grausamkeiten zum Trotz leistet, fortzutragen und dafür zu kämpfen, dass die Bevölkerung Gerechtigkeit erfährt und in der Zukunft ein gerechtes, freies Leben für alle möglich ist.