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Der Sturm brachte den Regen, die Bourgeoisie die Flut – zu der Katastrophe in Libyen

Nur wenige Tage nachdem er eine Konferenz zu dem Zustand der lokalen Staudämme besucht hatte, verfasste der Dichter und Aktivist Mustafa al-Trabelsi aus Derna, Libyen, folgende Zeilen: 

Der Regen

Enthüllt die durchnässten Straßen

Den korrupten Unternehmer

Und den gescheiterten Staat

[…]

Er erinnert die Armen

An die fragilen Dächer über ihren Köpfen Und die Lumpen an ihren Körpern

[…]

Der Regen

Ein gutes Zeichen

Ein verheißendes Versprechen

Eine Alarmglocke 

Vier Tage später war er tot. Erlegen den Fluten, die durch die Dämme der Stadt brachen und ganze Viertel mit sich rissen. Derna, eine Stadt, verstreut zwischen Land und Mittelmeer. 

Al-Trabelsis Zeilen sind sinnbildlich für das Geschehene; die Katastrophe kann nicht zu einer Laune der Natur reduziert werden. Jeder Liter, der durch die Straßen der Küstenstadt floss ist das Resultat der korrupten Politik eines vom imperialistischem Krieg zerrütteten Landes. Nach dem Schock und dem Verlust bleibt die Wut. Die Überlebenden Dernas ziehen in die Straßen und protestieren gegen die Verantwortlichen.

Doch wo finden wir diese? 

Seit Jahren keine Ruhe — zu dem aktuellen Zustand Libyens 

Fast zwei Wochen sind nun vergangen, seitdem das Sturmtief Daniel die libysche Küste traf. 30 Millionen Kubikliter Wasser brachen durch die Dämme und forderten zahlreiche Todesopfer. Offizielle Angaben variieren, so spricht der Libysche Rote Halbmond von 11,300 Toten und 10,000 Vermissten, während die UN inzwischen rund 4,000 Tote und 9,000 Vermisste verzeichnet. Jede Familie in der Stadt sei betroffen, habe entweder selber Mitglieder in den Fluten verloren oder kenne jemanden. Unabhängig der reellen Zahl, Körper türmen sich in der Stadt, Krankenhäuser und Leichenhallen sind restlos überfüllt.

Die WHO schlägt Alarm, warnt vor einer immanenten humanitären Katastrophe aufgrund von Wasserknappheit und erhöhtem Seuchenrisiko. Hinzu kommen Sachschäden in mehr als Zehnmillionenhöhe; das libysche Ministerium spricht von 70% ziviler Infrastruktur, die in der betroffenen Region beschädigt seien. Ein Ausmaß an Zerstörung, welches ein Land wie Libyen nicht tragen kann. 

Denn mehr als ein Jahrzehnt des von Imperialisten orchestrierten Bürgerkriegs und einer gespaltenen Regierung haben das nordafrikanische Land in einen chronischen Zustand des Chaos und der Instabilität gestürzt. 2011 wurde im Rahmen einer NATO-Operation der damalige Diktator Muammar Gaddafi gestürzt. Mindestens genauso sehr wie der Kampf seitens der westlichen Imperialisten Gaddafi galt, gilt er der Bevölkerung. Seit der Intervention ist Libyen nicht zur Ruhe gekommen. Es wurden zwei autonom voneinander agierende Regierungen eingerichtet, die jeweils über West- und Ost-Libyen herrschen. 

Die Administration in Tripolis, unter Leitung des Premierministers Abdulhamid Dbeibah wird von der UN anerkannt und pflegt Beziehungen zu einem Großteil der EU-Staaten, auch Deutschland, der Türkei und Katar. Formelles Oberhaupt der ostlibyschen Regierung ist Osama Hamad, der als Premierminister agiert. Eigentlich liegen Macht und Kontrolle der Region jedoch in den Händen des Generals Khalifa Haftar und seiner Miliz, der Libyan National Army (LNA), die mit Russland, den VAE, Saudi-Arabien, Ägypten und Frankreich – in diesem Zusammenhang ein Alleingänger der EU – verbündet sind. 

Viele spielen mit bei dem perfiden Spiel, denn Libyen ist ein Ort großer geostrategischer Relevanz. Wer sich dort einen Stützpunkt sichern kann, der ist in der Lage, Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum zu üben. Das ist beispielsweise das militärische Interesse, dass die türkische Bourgeoisie dort seit Jahren verfolgt; Libyen nimmt eine Schlüsselrolle ein in der aktuellen türkischen Sicherheitsstrategie. Zudem hat sich Libyen seit dem Zusammenbruch 2011 zu einem wichtigen Partner der EU in Sachen Einwanderung etabliert; innerhalb des Küstenstaates hat sich ein riesiges Netz des Menschenhandels und -schmuggels entwickelt. Von hier aus werden jedes Jahr Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Migrant:innen aus Afrika, dem Mittleren Osten und Südasien in den Tod geschickt. 

Insbesondere Italien setzt auf die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache und organisierte bereits zahlreiche Pushbacks. Und nicht zuletzt ist Libyen ein extrem rohstoffreiches Land: es verfügt über die größten Erdölreserven Afrikas, sowie eine hohe Menge an Erdgas. 

Kurzum: Libyen befindet sich im Fadenkreuz zwischenimperialistischer Konkurrenz. Jede Einzelne der imperialistischen oder regionale Mächte sieht Chancen und Investitionsbereiche in dem destabilisierten und verarmten Zustand des Landes. 

Nach der Hilfe kommt der Diebstahl 

Auch die humanitäre Hilfe, die die ost-libysche Küste erreicht, muss aus diesem Winkel betrachtet werden. Die VAE, Italien, Katar, Ägypten – Länder, die seit Jahren dort ihre Finger im Spiel haben, waren an erster Stelle und rühmten sich in den Medien mit Bildern voll beladener Flugmaschinen auf dem Weg in die Krisenregion. Besonders bemerkenswert ist darunter die Türkei – diesen Februar vergingen teilweise Wochen bis sich die staatlichen Rettungskräfte AFAD, wenn überhaupt, in  den türkischen Erdbebengebieten blicken ließen. In Derna waren sie innerhalb von drei Tagen vor Ort.

Sicherlich, die Region ist momentan auf jede Hilfe angewiesen, aber wir können nicht davon absehen, das Handeln involvierter Staaten politisch einzuordnen. Der mit Tripolis verbündete türkische Diktator Erdoğan versucht schon seit letztem Jahr seine Beziehungen zu der ost-libyschen Regierung zu verbessern – das halbvolle Glas stillt seinen Durst schon lange nicht mehr. Die Notlage der Region spielt ihm in die Karten. Und wenn sogar das französische Energiemonopol Total Energies SE, in Absprache mit der National Oil Corporation Libyens, 50 Tonnen-schwere Hilfspakete ins Krisengebiet schickt, spätestens dann sollte uns klar werden, dass es nicht darum geht Libyen zu unterstützen, sondern weiter in die ökonomische Abhängigkeit zu stürzen und den Zugang zu den dortigen Ressourcen, auch nach der Flut, weiterhin zu sichern. Was im Moment wie Unterstützung scheinen mag, wird langfristig das Maß an Ausbeutung und die Misere des libyschen Volkes erhöhen.

Der Aufruhr nach dem Sturm 

Tausende Überlebende Dernas zogen nur wenige Tage nach der Überflutung in die zerstörten und verschlammten Straßen der Stadt, in Protest gegen die Behörden und gegen Khalifa Haftar. Sie forderten den Rücktritt des House of Representatives (das ost-libysche Parlament in Tobruk) und, dass die Verantwortlichen dieser absehbaren Katastrophe zur Rechenschaft gezogen werden. Die Staudämme, die zuletzt 2002 gewartet wurden, galten in der Stadt lange als Bedrohung. Letztes Jahr bereits legte der Forschungsbericht Abdelwanees Ashoors, Professor für Ingenieurswissenschaften an der Sabha Universität offen, dass mögliche Überflutungen „[…] desaströse Folgen für Einwohner:innen des Tales und der Stadt“ haben würden. 

Der Zustand der Dämme war also durchaus bekannt, wie nicht zuletzt auch das Gedicht al-Trabelsis offenlegt. Trotzdem handelten weder die Behörden der ost-libyschen Regierung, noch die ausländischen Kräfte. Lediglich 2007, vor der Hinrichtung Gaddafis durch die NATO, wurde die türkische Baufirma Arsel mit der Sanierung der Dämme beauftragt. Laut eigenen Angaben auf der Firmenwebsite, die allerdings kurz nach den Fluten deaktiviert wurde, sei dieses Projekt 2012 fertiggestellt worden. Was genau geschah lässt sich schwer sagen, jedoch ist sicher, dass Wartung und Sanierung nicht geschehen sind. Ein Bericht der technischen Prüfbehörde Libyens aus dem Jahr 2021 bestätigt das. Trotzdem sollen zwei bis drei Millionen Dollar an das türkische Unternehmen überwiesen worden sein. 

Die Protestierenden sind wütend und militant — in der Höhe ihres Ausdrucks setzten sie das Haus des Bürgermeisters in Flammen. Die Behörden antworteten mit Zensur, eilig wurden Journalist:innen und Presse, sowie ausländische Hilfsorganisationen aufgefordert die Stadt zu verlassen, Internet und Elektrizität wurden temporär gekappt. Denn die Aufstände im Schatten der Flutkatastrophe reihen sich ein in die tumultuösen Zustände der letzten Wochen. Ende August entbrannten Proteste gegen die west-libysche Regierung, nachdem die inzwischen zurückgetretene Außenministerin Najla el-Mangoush sich mit ihrem israelischen Kollegen getroffen hatte. 

Nur wenige Wochen zuvor war es in Tripolis zu intensiven Gefechten zwischen zwei konkurrierenden Milizen gekommen, die die Stadt einige Tage in einen Ausnahmezustand versetzten. Die momentane Ordnung Libyens – soweit man sie überhaupt als solche bezeichnen kann – steht auf wackligen Beinen. Dabei waren für dieses Jahr sogar Wahlen angesetzt. Viele der ausländischen Mächte, die ein Auge auf Libyen haben, blickten mit Zuversicht auf diesen Plan, denn auch sie würden von einer geeinten Regierung profitieren— solange sich diese ihren Interessen unterordnet. 

Mit dieser Kenntnis müssen wir die aktuelle Situation in Libyen weiterhin verfolgen und analysieren. Das nordafrikanische Land, wie bereits erwähnt, steht in einer entscheidenden geostrategischen Position. Es ist eines der Schlachtfelder, auf dem die Neuordnung globaler imperialistischer Machtverhältnisse ausgetragen wird. 

Der Hauptfeind steht im eigenen Land 

In Derna haben wir beispielhaft gesehen, wie die Krisen der imperialistischen Globalisierung miteinander verknüpft sind. Die Katastrophe eskalierte in einem Zusammenspiel profitorientierter Klimapolitik und der überfälligen Infrastruktur eines Landes, welches seit Jahren Spielball imperialistischer Mächte ist. In den Fluten starben auch zahlreiche Migrant:innen, die ihre Heimatländer verließen, um dortigen Kriegen, Wirtschaftskrisen und miserablen Lebensbedingungen zu entkommen. In Derna harrten sie aus, in der Hoffnung eines Tages Europa zu erreichen. An allen Ecken sehen wir also, dass die Verantwortlichen sich nicht nur in den Parlamenten und Palästen Libyens, sondern in erster Linie in den imperialistischen Zentren finden. Es ist die Politik, die den Monopolen die klima- zerstörende Produktion ermöglicht. Es sind die Energiekonzerne, die Öl und Gas aus dem libyschen Boden ziehen. Es ist die NATO, die dort Krieg entflammte. Es ist die EU, die die Mauern ihrer Festung immer höher baut.

Aus Libyen heraus werden momentan Forderungen nach „internationalen Ermittlungen“ bezüglich der Ursachen des Versagens der Dämme laut, wie beispielsweise durch den inzwischen abgesetzten Bürgermeister Dernas. Während das Misstrauen in die libyschen Behörden, Politiker:innen und Generäle durchaus legitim ist, muss jedoch auch erkannt werden, dass die verschiedenen ausländischen und mitunter imperialistischen Mächte, die im Geschehen des Landes mitwirken, ebenfalls nicht im Interesse der Bevölkerung handeln. Täten sie das, so hätten auch sie bereits vor Jahren die Mittel zur Wartung und Sanierung der Dämme bereitgestellt, anstatt die verschiedenen Kriegsparteien mit Waffen zu unterstützen.

Was Libyen braucht ist eine sozialistische Bewegung, die sich dem Kampf gegen jeglichen Imperialismus sowie die heimische Bourgeoisie, dem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung verschreibt. Diese ist jedoch schon seit langem stark geschwächt, es gibt keine öffentlich bekannten Organisationen — nicht zuletzt auch aufgrund der anti-kommunistischen Politik Gaddafis, der die Organisierung und den Protest der Arbeiter:innenklasse mittels Verboten von Streiks und Gewerkschaften unterband.

Wenn die Einwohner:innen Dernas also Rechenschaft fordern, dann stehen wir in der Pflicht das Gleiche tun. Auch wenn die Herrschenden Lybiens im Interesse des Kapitals handeln, die wahren Schuldigen sitzen in unseren Städten, nicht in ihren. 

Wir müssen uns weiterhin gegen die Machenschaften deutscher, EU- und NATO- Imperialisten auflehnen. Dafür müssen wir uns zusammenschließen und organisieren. Denn solange die Länder dieser Welt unter dem Joch des Imperialismus stehen, solange die zügellose kapitalistische Produktion weitergeführt wird, solange werden derartige Katastrophen wieder geschehen. 

Für eine Zukunft, in der Regen wieder Regen ist und keine Alarmglocke.