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Ein großer Lehrer und Weiser ist gegangen! Sein Kampf wird weitergehen!

Unser Genosse Ibrahim Okçuoğlu, der vor einigen Tagen von uns gegangen ist, hat auch auf in Jugendliche große Bewunderung hinterlassen. Jedes Gespräch mit ihm, wie kurz es auch war, war gefült voller Ideologie und Standhaftigkeit. Sicherlich hatte er auch seine ernsten Seiten, die bei jungen Kommunist:innen viele Fragen aufwarfen. Doch mit seinem Wissen, welches er mit seinen Genoss:innen teilte, konnten wir sehr viel von ihm lernen. Jede Person, die ihm gegenüber stand, hat verschiedene Geschichten und Erinnerungen im Kopf. In den folgenden Zeilen erzählt ein Kommunist von seiner ersten Begegnung mit Ibrahim, den lustigen Wiederbegegnungen und ideologischen Diskussionen. In Fragen der Linie des Marxismus-Leninismus war auf den Lehrer Ibrahim Okçuoğlu immer Verlass. So sehr, dass er Hoxha genannt wurde.

Ich erinnere mich noch gut an unser erstes Gespräch. Es muss 1995 gewesen sein. Die Busfahrt würde noch einige Stunden dauern.  Ibrahim Okçuoğlu setzte sich zu mir. Der Professor, wie die Genoss:innen ihn mir vorgestellt hatten, fragte mich, was ich von der MLPD hielte? Dem Studentenalter bereits erwachsen, war ich politisch trotzdem noch ganz jung. Die Frage schmeichelte mir. Voller Stolz über mein neues Wissen – ich hatte gerade „Der Kampf um die Denkweise“ gelesen – erklärte ich Ibrahim, dass es sich um eine kommunistische Kirche handeln würde. Mit der ihm eigenen Art hörte er mir geduldig zu, stellte ein, zwei Nachfragen. Ich – immer noch zutiefst überzeugt den Marxismus-Leninismus und die Wahrheit zu vertreten – erklärte ihm, dass das Bewusstsein zum primären zu erklären, jawohl purer Idealismus sei. Er hatte genug gehört und wechselte das Thema. Erst Jahre später sollte ich verstehen, wie sehr ich mich gerade blamiert hatte. Hoxha hatte mir eine erste Lektion erteilt und vor Augen geführt, dass die Beurteilung einer Erscheinung nach einem einzelnen Aspekt, um sie dann in eine Schublade zu stecken, das sektiererische Gegenteil des Marxismus-Leninismus ist. Noch Jahrzehnte später hat er mich manchmal im Scherz gefragt, was denn die kommunistische Kirche mache?

Im Laufe der Zeit wurden unsere Diskussionen ernster. Der Parteiaufbau in Deutschland warf so viele Fragen auf. Manchmal erschien mir Ibrahim wie ein Schachgroßmeister zu handeln, der viele Spielzüge weiter sah, während ich noch über den nächsten Zug grübelte. Dabei hat er mir meinen größten Wunsch immer strikt verweigert. Statt mir ein Kochrezept für die sozialistische Revolution in Deutschland als „Lösung“ zu präsentieren, führte er uns behutsam auf den Weg. Er gab Fragen zurück; Hinweise wo man Anfangen müsse; Themen, die zu bearbeiten seien und manchmal Lesetipp, was hilfreich sein könnte.

Ibrahim prügelte sich gerne – am liebsten mit Trotzkist:innen, Revisionist:innen und allen Apologeten des Imperialismus im „marxistischen“ Gewand. Er war ein strenger Lehrer, der auch kleine Fehler unnachgiebig dick rot anstrich. Wenn man um Nachsicht für ein kleines bisschen Opportunismus bat, dass einem das Leben bei den Genoss:innen in dieser an sich doch ganz unbedeutenden und sicherlich nicht prinzipiellen Frage um so vieles erleichtern würde, dann drohte er einem Prügel an. Mit dem Professor in den Ring zu steigen, um verprügelt zu werden, konnte sich niemand wünschen. So fügte man sich notgedrungen und ärgerte sich, warum man so dumm sein konnte, bei dem Weisen so ein Anliegen vorzubringen. Es war doch vorher schon klar, dass er Nein sagen würde! In besonders hartnäckigen Fällen von bürgerlicher Dummheit griff der Professor zum äußeren Mittel und verabreichte ein Essen mit scharfen Peperoni. Er hat mir nie sein Geheimrezept verraten, aber seine scharfen Peperoni waren ein Wundermittel gegen Revisionismus. Noch der letzte Hauch von bürgerlichen Anwandlungen wurde damit todsicher ausgetrieben.

Ich kannte seine Wohnung, die nur aus Regalen zu bestehen schien, in denen zwei Reihen Bücher standen. Aber das war nichts gegen die Schatzkammer, in der er jetzt vor mir stand. Ein typischen Kellerverschlag im sozialen Wohnungsbau, höchstens drei Quadratmeter Grundfläche. Ringsherum Regale und davor Bücher bis zur Decke gestapelt. Ibrahim stand einen halben Schritt im Keller, weiter ließen einen die Bücherstapel nicht eintreten. Er hatte vom dritten Stock bis in den Keller mit einer Kabeltrommel eine Beleuchtung angebracht. Er suchte einige Bücher für uns raus, die für ein Einführungsseminar Verwendung finden sollten. Ein bescheidener Kommunist, der sich nicht über die Menschen stellte und gerne seine knappe Zeit mit der Verlegung von Licht verbrachte, um in einem Verschlag einige Bücher für einen mittelmäßigen Schüler rauszusuchen.

Ibrahim bestand auf die Analyse der Fakten. Tatsachen, Zahlen, Statistiken – das war keine „Schrulle“ von ihm, sondern die tiefe Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus, die ihn erfüllt hat. Wir diskutierten einige militärpolitische Fragen der Rojava-Revolution. Sein Fachgebiet lag bei den Themen wie beispielsweise der Analyse der revisionistischen Entwicklung der Sowjetunion. Seine Partei wie die kurdischen Patrioten waren optimistisch, dass Afrin gehalten werden könne und argumentierten unter anderem mit der Gebirgstopographie der Region. Ibrahim blieb skeptisch, verwies auf die Fakten in Form der türkischen Artillerie, die 40 bis 60 Kilometer Reichweite hatte und damit unerreichbar hinter der türkischen Grenze stand. Leider behielt er als Nicht-Militär in dem Fall Recht.

Genoss:innen fragten mich warum ich mit dem „Dogmatiker“ diskutieren würde? Neue Generationen waren herangewachsen und die Alten schienen aus der Zeit gefallen zu sein. Uns kam es seltsam vor, dass Karl Kautsky im neuen Jahrtausend plötzlich wieder frech in den Reihen der Kommunist:innen auftauchte. Sein von Lenin so überzeugend widerlegter Ultraimperialismus galt im Zeitalter der Globalisierung als modern. Unser Lehrer wirkte verändert. Als kommunistischer Intellektueller unterlag er der Parteidisziplin. Es war zu spüren, dass es schwierige Zeiten waren. Er kämpfte um seine Überzeugung, standfest wie er nun einmal war, aber diesmal schien er nicht nur auszuteilen, sondern musste vermutlich auch einiges einstecken.

Ibrahim war ein großer Lehrer. Er hat uns Kommunist:innen in Deutschland vieles beigebracht und seinen Beitrag dazu, dass es heute auch in Deutschland Kommunist:innen gibt, die sein Werk fortsetzen, ist vermutlich größer, als er selbst ahnte. Er hat uns nicht nur als Teil seiner Parteifunktion im offiziellen Rahmen zum Beispiel bei Konferenzen, Seminaren, Camps die Ideologie der MLKP gegeben. Er hat uns vielmehr erzogen – hart, unbarmherzig und von aufrichtigem Klassenhass angetrieben gegen die feindliche Ideologie, zugleich einfühlsam, geduldig und standfest im Umgang mit unseren Irrtümern, Abweichungen und Schwächen.

Ibrahim, ich verbeuge mich vor dir als großem Lehrer, standhaften Marxisten-Leninisten und weisen Revolutionär in tiefer Dankbarkeit und verspreche, dass dein Kampf gegen bürgerliche Ideologie zu Ende gebracht wird.

Ein kommunistischer Schüler in Deutschland.