Es weht ein rauer Wind in der Türkei und Kurdistan dieser Tage. Ein Wind, der Dreck und Blut mit sich trägt. Letztes Jahr waren es die Frauen in der Türkei, die rund um den 25. November in ihrem Kampf gegen die Abschaffung der Istanbul-Konvention die angespannte Stille der Corona-Zeit und die Demonstrationsverbote gebrochen und mit ihrem Protest die Straßen geflutet haben. Dieses Jahr haben sie die Barrikaden der Polizei durchbrochen, um sich den Weg zum Taksim-Platz freizumachen. Die Bilder ihres Widerstandes gingen um die Welt. Aber es sind nicht nur die Frauen, die in ihrem Kampf für das Leben die Wände von Erdoğans Palast zum Zittern bringen. Seit Monaten schon brodelt es in der Türkei und die politische Lage spitzt sich zu.
AKP Istifa!
„AKP ISTIFA! AKP ISTIFA! (Rücktritt der AKP!)“, hallte es vor wenigen Wochen tagelang durch die Straßen zahlreicher Viertel Istanbuls, Izmirs, Ankaras und anderer Städte der Türkei. Die Vorreiter unter den Arbeiter:innen und Werktätigen, und zwar die Vorhut der Arbeiter:innen- und Werktätigenmassen sind auf den Straßen, weil die täglich wachsende Verelendung unerträglich geworden ist. Die Inflation, also der Wertverlust, der türkischen Lira betrug in der letzten Woche 25 Prozent. In den 19 Jahren von Erdoğans Regierungszeit ist Brot um 900 Prozent teurer geworden.
Auf diese Bilder von landesweiten Protesten gegen die Armut und Verelendung der Bevölkerung der Türkei folgten vorgestern direkt die nächsten Bilder von den Tausenden Frauen in Istanbul, die voller Entschlossenheit, Gummigeschossen und Tränengas zum Trotz, die Polizeibarrikaden in der zentralen Istiklal-Straße durchbrachen, um zum verbotenen Taksim-Platz vorzudringen. Trotz aller Panzerungen, trotz aller Absperrungen, konnte die Polizei nichts ausrichten gegen die Masse der Frauen, die sie einfach überrannte.
Es brodelt nicht nur in der Türkei, das Fass läuft offensichtlich schon über und treibt die Unzufriedenen, die so lange still gehalten haben, unaufhaltsam auf die Straßen.
2. Mai 2021
Der Mafiaboss Sedat Peker veröffentlicht sein erstes Video aus dem Exil. Es schlägt ein wie eine Bombe. In diesem und den folgenden Videos legt er die alles durchdringenden Beziehungen zwischen Staat und Mafia in der Türkei Stück für Stück offen. Er selbst steht der faschistischen MHP nahe, mit der Erdoğans AKP eine Regierung bildet. Ihr – und sein – erklärtes Ziel ist ein großtürkisches Reich. Nach jahrelanger „guter Zusammenarbeit“, in der Peker auch bewaffnete Einsätze gegen die PKK für den Staat übernommmen haben soll, wird er jedoch fallen gelassen und flüchtet ins Exil. Von da aus startet er seine Videoreihe.
Die Schlagkraft seiner Geschichten liegt aber nicht nur in ihnen selbst. Sie sind ein weiterer Windstoß gegen den Palast von Erdoğan, dessen Fundament schon seit langem bröckelt. Es bröckelt durch eine Wirtschaftskrise mit einer immensen Inflation, es bröckelt unter einer völlig verfehlten Pandemiepolitik, bei der man gar nicht genau weiß, wie viele Opfer sie eigentlich gekostet hat, es bröckelt unter den inneren Auseinandersetzungen mit Pogromen und extrem steigendem Rassismus, unter Waldbränden, Erdbeben und Überflutungen, angesichts derer die Bevölkerung auf sich alleine gestellt ist, unter endlosen Kriegen und unter täglichen Femiziden (Frauenmorden).
„Entweder wir sterben auf der Arbeit an Corona, oder zuhause an Hunger“
2020 war global ein Krisenjahr, welches unübersehbar zur Schau gestellt hat, in welch ein tiefes Loch jedes Vertrauen gegenüber bürgerlichen Regierungen geworfen wird. Während die Zahlen der Corona-Toten überall rasant steigen gibt es in der Türkei offiziell kaum Corona-Tote. Wir sehen zwar die Videos von den überfüllten Friedhöfen, wir hören von den Verlusten von Freunden und Verwandten – aber irgendwie verschwinden diese Menschen im Sand, sie tauchen nicht auf, in keiner offiziellen Statistik. Die ganze Welt wird von einer Pandemie heimgesucht, aber die Türkei hat kein Corona-Problem. Es gibt keinen Grund, Angst vor der Ansteckung auf der Arbeit zu haben. In den Hochphasen der Pandemie hat sich die Arbeiter:innenfeindlichkeit des türkischen Regimes ganz eindeutig gezeigt: es wurde ein wochenlanger totaler Lockdown verhängt, aber die Lohnarbeit war davon ausgeschlossen. Sämtliche Proteste und Demonstrationen wurden verboten und kriminalisiert, Genoss:innen haben für ihre legitimen Aktionen immense Bußgelder bekommen – wie in den meisten bürgerlichen Staaten hieß es: „Lockdown für das Leben, nicht aber für den Profit.“
Während laut Gewerkschaften in einem Großteil der Betriebe Corona grassierte wurden Aktionen zum 1. Mai, bei denen genau dieser Missstand angeklagt wurde, mit Repressionen überzogen.
Die Grundlinie eines Lockdowns für das Leben statt für den Profit war in den meisten bürgerlichen Staaten sichtbar; in der Türkei ist sie mit den Ausnahmezuständen, die jede Versammlung und politische Aktion unmöglich machen sollten, auf der einen Seite, und der kompletten Untätigkeit in der Bekämpfung der Pandemie auf der anderen Seite, auf die Spitze getrieben worden.
Während der Anfangszeit der Pandemie gab es den Spruch: „Entweder wir sterben auf der Arbeit an Corona, oder zuhause an Hunger.“ Angeblich sank die Arbeitslosenquote in der Türkei im vergangenen Jahr. Auch hier geht es letztlich aber mehr um das Spiel mit Statistiken als um die Wahrheit: etliche Menschen sind aus den Erwerbsstatistiken geflogen, da sie auf „unbezahlten Urlaub“ gesetzt wurden oder als nicht mehr dem Arbeitsmarkt verfügbar betitelt wurden. Die Arbeitslosenzahlen sind gesunken, aber nur weil die Statistiken selbst um Hunderttausende geschrumpft sind. Die linke Gewerkschaft DISK berechnete eine Arbeitslosenquote von 27%, die Jugendarbeitslosigkeit ist laut TOBB bedeutend höher bei ganzen 38,5% und 76% der Jugendlichen wollen ins Ausland. Während die Menschen keine Jobs bekommen wird das Leben gleichzeitig immer teurer. Erdoğans Beliebtheit hat lange auf einem Wirtschaftswachstum, auf einem Bauboom gefußt, aber diese Grundlage fällt in der Krise immer weiter in sich zusammen. Während er noch, vor nicht allzu langer Zeit gewaltige Massen der türkischen Bevölkerung hinter sich vereinte als der starke Mann, der aus dem Armenviertel ins Parlament kam, bleiben jetzt gerade noch seine erzkonservativ-strengreligösen Stammwähler:innen hinter ihm.
Aber nicht nur die Wirtschaftskrise bedroht die Existenzen der Bevölkerung der Türkei. Das Land wurde in den letzten Monaten auch von mehreren Naturkatastrophen heimgesucht: ein großes Erdbeben in Izmir, verheerende Waldbrände im Osten der Türkei und in Nordkurdistan, Überschwemmungen in der Schwarzmeerregion. Gemeinsam hatten alle diese Ereignisse eins: Die Tatenlosigkeit des Staates.
Es zeigte sich, dass der Staat nicht einmal die Geräte, die Löschflugzeuge, etc., besaß, um etwas zu tun in Notfällen wie diesen. Die Menschen wurden zwischen ihren zertrümmerten Häusern und verkohlten Feldern sich selbst überlassen. Und haben sich organisiert: die Solidarität in den Naturkatastrophen war sehr groß und sie war der Faktor, der das Überleben möglich machte. Wenn es Kräfte gab, die die Menschen unterstützt haben, dann waren es die Revolutionär:innen: die ESP hat in Izmir zum Beispiel sofort Wiederaufbauarbeiten organisiert und einen großen Einfluss in diesen Tagen gehabt. Die Naturkatastrophen in den letzten Monaten haben das Elend an vielen Orten verstärkt und haben klar deutlich gemacht, dass sich auf den Staat nicht verlassen werden kann. Wenn auch nicht in ausreichendem Ausmaß ist Izmir gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass Revolutionär:innen sich dieses Vertrauen, was der Staat so oft verloren hat, erkämpfen.
Wie schon vorher gesagt, die Unzufriedenheit unter der Jugend ist extrem groß. Besonders Studierende treten deshalb immer wieder in den Mittelpunkt von Protesten und Widerständen. Wichtigstes Beispiel hiervon sind die monatelang anhaltenden Proteste an der renommierten Bogazici-Universität, mit denen die Studierenden gegen die undemokratische Einsetzung eines AKP-nahen neuen Direktors für die Universität, Melih Bulut, protestierten. Diese Einsetzung von Zwangsrektoren ist ein gängiges Manöver von Erdoğan, mit dem versucht wird, die Wissenschaft komplett unter den eigenen politischen Interessen zu organisieren. Der Bogazici-Widerstand hat aber ein konkretes Beispiel gegeben, dass diese Zwangsrektoren nicht hingenommen werden müssen und dass ein antifaschistischer, demokratischer Widerstand Erfolg haben kann. Ein anderes Beispiel sind die „barinma hakkimizdir (Unterkunft ist unser Recht)“-Proteste, bei denen Studierende tagelang in Parks geschlafen und Protestcamps organisiert haben, um gegen die hohen Mietpreise, die das Finden und Bezahlen einer Wohnung für die meisten Studierenden unmöglich machen, zu protestieren. Diese Bewegung hatte auch eine besondere Bedeutung, weil sie die Möglichkeit bot, die Widerstände von Studierenden und Arbeiter:innen zu vereinen, da die Wohnsituation ein Problem ist, welches breite Teile der Gesellschaft betrifft und in ihrer Existenz bedroht.
Unter all diesen Umständen sinkt die Unterstützung der faschistischen Regierungskoalition von AKP und MHP: So weit, dass die 10%-Hürde kurzerhand abgeschafft wurde, damit der kleine Regierungspartner MHP, die inzwischen unter 10% angelangt ist, nicht aus dem Parlament rausfliegen kann. In dieser Situation versucht das Regime mit verschiedenen Mitteln, sich an die Macht zu klammern.
Chauvinismus und die Flucht nach vorn
Schon im ersten Weltkrieg haben die Kommunist:innen treffend gesagt, dass der Krieg nach außen eine Methode der Herrschenden war, von den Problemen im Inneren abzulenken und einen „Burgfrieden“ in der Nation zu schaffen. Dieses Muster ist, wie in vielen anderen Fällen, auch in der Türkei sichtbar. Um die Klassenkämpfe, die Armut, die Gewalt gegen Frauen, die offensichtlichen Verstrickungen von Mafia und Staat aus den Köpfen zu vertreiben, wird eine umfassende Kriegspropaganda geführt. Erdoğan versucht sich als den starken Mann darzustellen, der die Türkei zur alten Größe des osmanischen Reichs zurückführt – durch Krieg und Ausbeutung.
Besonderes Ziel ist dabei nach wie vor Kurdistan und die kurdische Befreiungsbewegung. Nachdem die Angriffe auf die Gerîla in Südkurdistan trotz des Einsatzes völkerrechtswidriger chemischer Waffen und trotz der extremen technischen Überlegenheit der türkischen Armee keinen Erfolg hatten, wird sich jetzt wieder zunehmend auf Rojava orientiert. Der anhaltende Widerstand in Başur (Südkurdistan) zwang die türkische Invasion in die Niederlage, da sie es nicht schafften, die Gerîla aus den freien Gebieten zu vertreiben. Nun wollen sie in Rojava, im Herzen der Revolution, dort weitermachen, wo sie 2019 mit der letzten Invasion aufgehört haben. Mit der Besatzung von Afrîn und Serêkanîye hat der türkische Faschismus unter den wohlwollenden Augen der Imperialisten Russlands, der USA, aber auch Europas, die Gebiete der Revolution zu spalten versucht. Seitdem ist grausame Gewalt Alltag in den besetzten Gebieten und die freien Gebiete werden durch immer wiederkehrende kleinere Angriffe, Vorstöße und Kampfflugzeuge über den Dörfern, etc. unter ständiger Bedrohung gehalten. Der Krieg in Rojava hat für den türkischen Faschismus eine besondere Bedeutung: auf der einen Seite geht es um die Zerstörung des revolutionären Projekts in Rojava, welches allen Völkern und Unterdrückten des Mittleren Ostens gerade eine Perspektive gibt, die zeigt, dass Revolution möglich ist. Mit der materiellen Zerstörung von Rojava, der Zerbombung seiner Häuser und der Ermordung seiner Bevölkerung, wollen die Faschisten auch der ideologischen Strahlkraft dieser Revolution ein Ende setzen. Zum anderen ist dieser Krieg ein direkter Teil der Expansionspläne der Türkei auf dem Weg zu „einem neuen osmanischen Reich“ und „zurück zu alter Größe“. Und nicht zuletzt ist diese Invasion ein kolonialistischer Krieg gegen die Kurd:innen, deren Autonomie der türkische Faschismus nicht akzeptieren kann, während er immer noch die Existenz Kurdistans jeden Tag abspricht und die koloniale Unterdrückung in Nordkurdistan aufrecht erhalten will.
Dieser Krieg wird jedoch nicht nur nach außen, sondern auch nach innen geführt. Die rassistische und faschistische Hetze innerhalb der Türkei hat in den letzten Monaten ein neues Niveau erreicht. Es ist erst wenige Monate her, dass uns über alle sozialen Medien Videos erreichten, wie Geflüchtete von faschistischen Mobs durch die Straßen gehetzt, gejagt wurden, wie kurdische Läden markiert und geplündert wurden. Diese türkische Pogromstimmung kam nicht aus dem Nichts, sondern war Stück für Stück geschaffen worden. Ihre bisherige traurige Spitze fand die faschistische Gewalt in der Ermordung einer siebenköpfigen kurdischen Familie in Konya durch Faschisten diesen Sommer, in der Ermordung der HDP-Politikerin Deniz Poyraz am helllichten Tag mitten im HDP-Büro von Izmir und nun in der Ermordung dreier junger, syrischer, geflüchteter Arbeiter in Izmir. Einen Tag vor dem Beginn des Prozesses gegen den Mörder von Deniz Poyraz gab es nun einen weiteren Angriff auf ein HDP-Büro, diesmal im Istanbuler Stadtteil Bahçelievler. Nur wegen der schnellen Reaktion eines der Menschen, die gerade in dem Büro anwesend waren, konnten weitere Tote verhindert werden. Ist das Datum des Angriffes ein Zufall? Wohl kaum. Auch dieser Angriff ist ein weiterer Versuch, die revolutionäre und demokratische Bewegung durch eine Welle des Terrors einzuchüchtern. Der Fall Deniz Poyraz ist ein Paradebeispiel für die tiefen Verstrickungen des türkischen Staates: in einer Zeit, in der AKP und MHP erneut versuchen, die HDP als terroristisch zu verbieten, wird Deniz Poyraz von einem Söldner ermordet, welcher früher schon in Rojava auf Seiten des IS gekämpft hatte und heute im Auftrag des türkischen Staates für die Söldneragentur SADAT mordet. Der Prozess von Deniz Poyraz hat gerade erst begonnen, sein Ergebnis ist jedoch schon praktisch vorbestimmt: der Mörder war ein „Einzeltäter“. Mit faschistischen angeblichen „Einzeltätern“ und „Einzelfällen“ kennen wir uns hier in Deutschland ja auch gut aus – überall sind es die selben Geschichten, mit denen sie versuchen, mit einzelnen Bauernopfern die Schuldigen und das kriminelle System zu verdecken. Auch beim tragischen Mord an den drei jungen Syrern spricht der Staat von einem verrückten Einzeltäter, während gleichzeitig die Angehörigen bedroht werden, bloß nicht mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Über jeden Mord werfen sie schamlos den grauen Vorhang ihrer Verdeckungspolitik, versuchen ihn mit Drohungen an seinem Platz zu halten – und doch ist die Lage z.B. bei Deniz Poyraz so offensichtlich, es lässt sich einfach nichts mehr verdecken, wie viele Vorhänge sie auch drüber zu werfen versuchen.
In „Ein Windstoß bringt das Kartenhaus zum Wanken“ wollen wir die aktuelle Situation in der Türkei analysieren. In Teil 2 des Textes wird es um den Putsch 2016, seine Auswirkungen und die innenpolitischen Machtkämpfe in der Türkei gehen.