Rückschrittlicher Bürgerkrieg oder Revolution?
31. Juli 2021, Konya.
Das Haus einer Familie brennt. Die Flammen reißen mehrere Menschen, unter ihnen Kinder, in den Tod. Der Grund: Sie sind Kurd:innen. Der Brand ist kein Zufall, sondern ein gezielter rassistischer Anschlag.Wenig später erreichen uns Videos von Pogromen, bei denen Geflüchtete von faschistischen Mobs durch die Straßen türkischer Städte gehetzt werden. Läden von Kurd:innen werden markiert und geplündert. Faschisten führen an den Straßen Personalienkontrollen durch, um Kurd:innen zu finden und zu schikanieren oder sogar gewalttätig zu werden.
Der Mord an Deniz Poyraz, jetzt der Mord an den drei jungen Geflüchteten in Izmir. Diese aufgeheizte Situation kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist das Ergebnis von langer gezielter Propaganda des Staates und der von ihm kontrollierten Medien. Seit Jahren schon wird Kriegspropaganda gegen die kurdische Freiheitsbewegung und Kurd:innen allgemein betrieben – und Krieg geführt. In dieser ständigen Kriegssituation, mal innerhalb, mal außerhalb der türkischen Grenzen, werden Nationalismus und die Einheit des türkischen Volkes beschworen. Wie vorher schon angesprochen, hat das Regime lange relativ erfolgreich versucht, durch Kriege nach außen und die Erschaffung eines äußeren Feinds vom eigenen Versagen im Inneren abzulenken.
In der Krise, in der sich das Regime heute befindet, ist das aber nicht mehr ausreichend. In der ganzen Misere, in der sich die breite Bevölkerung der Türkei befindet, sinkt die Unterstützung des Regimes stetig. Die Menschen bangen um ihre Existenz und sehen, dass AKP/MHP ihnen aus dieser Not nicht heraus helfen werden. Wären heute Wahlen – und würden diese wirklich nach demokratischen Prinzipien ablaufen – würde die Regierung dieser Parteien abgewählt werden. Die AKP ist auf einem extremen Tief und für die MHP musste die faschistische 10%-Hürde, die einst eingeführt wurde, um den Einzug der HDP ins Parlament zu verhindern, nun kurzerhand wieder abgeschafft werden, weil sie selbst die 10% nicht schaffen würde.
Wie wir aber vorher auch schon gesehen haben: Für das Regime steht die Macht nicht zur Frage. Wenn nicht auf demokratischem Weg, dann eben mit allen anderen Mitteln.
Werfen wir noch einen Blick in die Geschichte: der faschistische Militärputsch und das darauffolgende Regime in den 1980er Jahren markieren eines der blutigsten Kapitel in der jüngeren Geschichte der Türkei. Was war diesem Putsch vorausgegangen? Eine starke revolutionäre linke Bewegung, eine immer stärker werdende kurdische Freiheitsbewegung, und diese in ständiger Auseinandersetzung mit der faschistischen Konterguerrilla der Grauen Wölfe, der paramilitärische Arm der MHP. Besonders in dieser Zeit haben sie sich einen Namen gemacht mit ihren massenhaften Morden an Kommunist:innen, Kurd:innen, Alevit:innen. Diese Auseinandersetzungen vertieften sich, während die MHP – damals wie heute – stetig an Unterstützung in der Bevölkerung verlor. Damals wie heute brachten sie die Gewalt zur Eskalation, während sie im Parlament vor dem Aus standen. Als klar wurde, dass sich die „demokratische“ Macht so nicht weiter erhalten ließe, griff man zum letzten Mittel: dem faschistischen Militärputsch. Die faschistische Hetze des Regimes intensiviert sich immer weiter. Eigentlich ist der Grund für die Misere der Bevölkerung klar: wer gerade noch essen kann oder nicht, ist eine Klassenfrage. Der Feind sitzt im Präsidentenpalast. Mit ihrer Hetze versuchen sie aber die Linien anders zu ziehen: zwischen „Eingeborenen“ und Geflüchteten, zwischen Türk:innen und Kurd:innen, zwischen Muslim:innen und Alevit:innen. Der letzte Ausweg für das Regime ist gerade, die Wut des Volkes in einen reaktionären Bürgerkrieg zu lenken, um dabei alle Antifaschist:innen, alle Fortschrittlichen auszulöschen.Militärapparat, Geheimdienste, aber auch Paramilitär werden immer weiter entwickelt. Die Repressionen und Gewalt von Seiten des Staates erreicht ständig neue Niveaus. Der Staat bereitet sich offensichtlich auf diese Auseinandersetzung vor.
Das bedeutet für alle Revolutionär:innen, sich auch vorbereiten zu müssen.Ab jetzt bleibt nur noch eine Chance: Selbstverteidigung des Volkes auf allen Ebenen und antifaschistische Einheitsfront.
1980 oder 1917
Gerade eben schon haben wir eine geschichtliche Parallele zum Militärputsch 1980 gezogen. Damals putschte das Militär, um die „bürgerkriegsähnlichen Zustände zu beenden und ruhe und Ordnung zu bringen“. Was für Lehren können wir von damals für heute ziehen?
Zum einen, dass die sich häufenden Gewalttaten faschistischer Konterguerrillas keinesfalls die „Einzelfälle“ sind, als die sie verkleidet werden. Es ist die selbe faschistische Gewalt, mit der die revolutionären und demokratischen Kräfte zum Schweigen gebracht werden sollen damals wie heute. Und sie eskaliert damals wie heute, weil das Regime in diesen Zeiten der Krise nichts zu bieten hat als Hunger und Elend und die Lösungen bei den Revolutionär:innen liegen. Deshalb sollen sie schweigen und werden mit allen Kräften zum Schweigen gebracht.
Der Mord an Deniz Poyraz kann als Test gewertet werden: Wie stark werden die Kurd:innen und die Demokrat:innen darauf reagieren? Wie stark wird der Widerstand sein? Was passiert, wenn Menschen sogar in Parteibüros zum Abschuss freigegeben werden?Wir müssen davon ausgehen, dass es nicht der letzte Mord ist. Der schreckliche Mord an den drei jungen Geflüchteten hat diese Vermutung bestätigt. Die Lage spitzt sich zu. Wer dem weiter zuschaut, sich „auf die Zeit nach der AKP vorbereitet“ oder die Lösung für alles in vorgezogenen Wahlen sieht, ist nicht nur blind, sondern läuft ins offene Messer. Es gilt gerade gegen Pogrome, gegen faschistische Mordanschläge, gegen Krieg und Hunger zu kämpfen. Es gilt gerade das Regime zu bekämpfen, welches gerade von seinem Palast aus Söldner nach Libyen, Kurdistan und in die Parteibüros der HDP schickt – bevor diese weiter schießen.
Ob wir es wollen oder nicht, das Regime hat den Bürgerkrieg schon beschlossen. Die Morde, die Pogrome, die Repressionen: sie haben den Krieg schon lange eröffnet.1980 herrschte auch in den Regierungsgebäuden politische Instabilität, die Parteien waren schwach und uneins. Die heutige Türkei ist anders: während ihr so vieles fehlt, einen „starken Mann“ hat sie. Eine starke Hand in der Politik wird sie aus der Krise nicht herausführen, sie hat sie hineingeführt. Die Macht im Staat liegt schon lange in den Händen einer Person. Wer auf einen Putsch wartet, um den Faschismus anzuerkennen, kann noch sitzen und Däumchen drehen.
„Selbstverteidigung des Volkes und antifaschistische Einheitsfront“
Was bedeutet das jetzt genau?
Zum einen bedeutet das, dass wir den Faschismus endlich als solchen anerkennen und entsprechend kämpfen müssen. Wer den Faschismus nicht sieht, kann es sich weiterhin in seinen Vereinen bequem machen und auf die Wahlen warten. Wer den Faschismus nicht sieht, verspürt auch kein Bedürfnis nach illegaler Organisierung, nach bewaffnetem Kampf, denn „ist ja alles halb so wild, bald wird der alte Mann eh abgewählt“. Währenddessen spielt sich der Kampf außerhalb dieser Vereine jeden Tag blutiger ab. Fakt ist, dass alle antifaschistischen und revolutionären Kräfte sich jetzt zusammenschließen müssen und dem Volk die Möglichkeit geben müssen, sich auf allen Ebenen selbst zu verteidigen. Damit die faschistischen Söldner und Konterguerrillas eben nicht weiterhin Parteibüros und alle Orte des Lebens zu Zielen des mörderischen Staatsterrors machen können.
Wer auf den Putsch wartet, wird den eskalierenden Staatsterror bekommen und sein zweites 1980 erleben. Wer kämpft, kann den gesellschaftlichen Moment des Bürgerkrieges nutzen; so schmerzhaft es auch sein mag. Es ist nicht grundlos, dass viele Revolutionen aus einem Bürgerkrieg heraus entstanden sind. Die russische Revolution 1917 ist das wohl beste Beispiel.
Im Bürgerkrieg gibt es kein Gewaltmonopol des Staates. Es gibt auch kein Machtmonopol des Staates. Der Bürgerkrieg ist der Moment, in dem der Staat sich am stärksten zu zeigen versucht, aber am schwächsten ist. Er kann ein Ausradieren aller Gegner sein, er kann aber auch das letzte Aufbäumen vor dem Tod dieses verrotteten Regimes sein.Das liegt in den Händen der Revolutionär:innen und des Volks.Werden wir diesen historischen Moment nutzen oder nicht?Wollen wir für das Leben kämpfen oder mit blinden Augen in den Tod gehen?Das mag großspurig klingen, aber eins muss uns bewusst sein: auch wer heute noch einigermaßen ruhig seinen Tee trinken und schlaue Texte darüber schreiben kann, warum die Türkei nicht faschistisch sei, wird das schon bald nicht mehr können. So wie das kaum ein:e Arbeiter:in, Kurd:in, Alevit:in, Geflüchtete:r, Frau oder LGBTI+ Person in der Türkei oder Nordkurdistan gerade noch kann.
In „Ein Windstoß bringt das Kartenhaus zum Wanken“ wollen wir die aktuelle Situation in der Türkei analysieren. Im vierten und letzten Teil des Textes wird darum gehen, wie der lange Arm des türkischen Faschismus bis nach Deutschland reicht und wie wir als Arbeiter:innen, Revolutionäre und Menschen die hier leben darauf antworten müssen.