Abschied von 29 mutigen Menschen…
In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober regnet es Bomben in Derîk. Ziel ist die Ausbildungsstätte der Asayîs, der Einheiten für innere Sicherheit in Rojava. Die Menschen, die dort unsterblich geworden sind, wurden speziell zur Bekämpfung von Drogen ausgebildet. Unter den 80 Personen, die sich in dem Ausbildungsgebäude befanden, überlebten 29 die Nacht, welche von drei Bombenangriffen in kurzer Abfolge durchrissen wurde, nicht. Das Massaker, welches das faschistische Regime verübte, traf damit eindeutig keinen militärischen Stützpunkt, sondern eine Anti-Drogen-Einheit. Nach diesem schrecklichen Schlag hat die Selbstverwaltung eine dreitägige Trauer in Rojava ausgerufen, in der alle Schulen, Geschäfte etc. geschlossen sind. Die Gesellschaft ist erschüttert, wenn auch nicht überrascht von diesem blutigen Angriff.
Derweil verkündete der Chef des faschistischen Regimes der Türkei, dass “die erste Phase” der Operation gegen die Selbstverwaltung von Nordostsyrien abgeschlossen sei.
Was passiert gerade in Kurdistan? Und wenn das die erste Phase war – was kommt dann als Nächstes?
Ein schmutziger Krieg an vielen Fronten
In den letzten Tagen bekamen wir verschiedene Nachrichten von Angriffen auf Rojava: die Bombardierung der Asayîs-Ausbildungsstätte forderte die meisten Menschenleben der letzten Tage, aber die Angriffe beschränkten sich nicht alleine darauf. Vielmehr wurde ein umfassender Angriff auf die inneren Systeme der Selbstverwaltung, auf das Leben in Rojava und damit das Herz der Revolution durchgeführt: Hauptziel der Angriffe auf Rojava in den letzten Tagen war die Infrastruktur der Selbstverwaltung. Die Ölförderung, Haupteinnahmequelle in der Region, wurde durch gezielte Angriffe auf Förderstellen an vielen Orten zum Erliegen gebracht. Die Stromversorgung war eines der Hauptangriffsziele und ist in der Region Jazira sogar gänzlich eingebrochen. Die beschädigte Infrastruktur wird zu großen Problemen in der Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Brot und Elektrizität führen. Das alles inmitten einer Wirtschaftskrise, die schon seit längerer Zeit ganz Syrien betrifft, wird zu noch größerer Versorgungsknappheit und Preissteigerungen führen. Bedran Kurd von der Behörde für außenpolitische Beziehungen der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien beschreibt die Intention des faschistischen Regimes der Türkei klar: “Das Ziel ist, das Leben so unerträglich wie möglich für das Volk zu machen.” Das wiederum zielt besonders auf eines ab: den Widerstandsgeist der Völker von Rojava zu brechen und sie in die Flucht zu schlagen.
Diese Operation, deren “erste Phase” Erdogan nun für abgeschlossen erklärt hat, darf jedoch nicht auf Rojava beschränkt betrachtet werden. In derselben Woche gab es auch zahlreiche Angriffe auf die Guerrilla in Basur (Südkurdistan/Irak) mit international geächteten chemischen Waffen. Gleichzeitig wurden innerhalb einer Woche über hundert politische Aktivist:innen, kurdische Politiker:innen etc. in Bakur (Nordkurdistan) und der Türkei teilweise unter Folter verhaftet, es gab Durchsuchungen von Wohnungen und politischen Zentren. Zusammengefasst, eine neue Spitze des faschistischen Staatsterrors gegen kurdische und antifaschistische Bewegungen.
Das faschistische Regime nennt es “Selbstverteidigung innerhalb und außerhalb der Grenzen der Türkei nach dem “Attentat” von Ankara. Angeblich hätten sie Informationen darüber, dass die “Attentäter” aus Syrien kämen und dort ausgebildet worden seien, weshalb “alle Infrastruktur- und Energieeinrichtungen der YPG und PKK in Syrien und Irak (…) von nun an legitime Ziele” ihrer Kriegsführung seien.
Die aktuellen Angriffe gelten nicht nur Rojava, sie gelten ganz Kurdistan. Sie sind ein neuer Moment in einem Krieg um die Freiheit des kurdischen Volkes, welcher in allen Teilen Kurdistans sowie in den kolonialen Staaten wie der Türkei selbst geführt wird. Wenn wir die aktuelle Situation verstehen wollen, müssen wir also alle Fronten dieses Krieges in den Blick nehmen.
Ankara: eine revolutionäre Ansage im Herzen der Bestie
Was ist am 1. Oktober in Ankara passiert?
In den bürgerlichen Medien wird allgemein von einem “Terroranschlag” gesprochen.
Die Ankara-Aktion war eine revolutionäre Aktion, zu der die kurdische Freiheitsbewegung sich bekannt hat. Zwei Guerrillakämpfer der Bewegung haben einen Bombenanschlag auf das türkische Innenministerium verübt, bei dem sie auch bewusst in Kauf nahmen, die Aktion nicht zu überleben. Sie fand statt am ersten Sitzungstag des neuen türkischen Parlaments nach der Sommerpause und wenige Tage vor dem Jahrestag des internationalen Komplotts, der vor über 20 Jahren zur Verhaftung Abdullah Öcalans führte.
Was ist die Bedeutung von Ankara?
Der türkische Faschismus versuchte in den Tagen nach der Aktion wiederholt, die Aktion als erfolglos und gescheitert darzustellen. Die kurdische Freiheitsbewegung hingegen erklärte, dass die Aktion ihr Ziel genau erreicht habe: Ankara war eine Ansage an das faschistische Regime der Türkei. Bis hierhin und nicht weiter.
In den letzten Monaten sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche das Regime in seinem schmutzigen Krieg in Kurdistan nutzt, Tag um Tag exzessiver geworden. Ununterbrochen wurde Giftgas gegen die Guerrilla eingesetzt, die Bevölkerung Kurdistans terrorisiert, ein ständiger Krieg niedriger Intensität gegen die Selbstverwaltung in Rojava geführt. Ankara hat gezeigt: Die revolutionäre Bewegung lässt sich nicht in die Berge zurückdrängen. Der Faschismus versucht immer tiefer in Kurdistan einzudringen – und die Guerrilla antwortet mitten im Herzen der Bestie, mitten in der Hauptstadt, direkt vor der Tür der Faschisten im Parlament.
Gleichzeitig ist Ankara aber auch eine Ansage an die Kurd:innen und Demokrat:innen in der Türkei und Nordkurdistan selbst: sehr viele Menschen hatten alle ihre Hoffnungen in eine demokratische Abwahl Erdogans gesetzt – so sehr es auch schon im Vorhinein klar war, dass die Faschisten nicht kampflos ihre Posten überlassen würden und auch, dass sich mit einer reinen Personenänderung nicht viel im staatlichen System des Faschismus ändern würde. Nach der Wahl fielen viele Menschen in eine Hoffnungslosigkeit: “Wir haben die Faschisten nicht abwählen können, was können wir jetzt noch tun?”
Ankara ist eine Ansage, nicht die Hoffnung zu verlieren – sondern, dass der einzige Weg zur Freiheit der Widerstand ist und die Bestie des Faschismus mitten in ihrem Herzen getroffen werden muss.
Für das faschistische Regime war Ankara nicht mehr als eine Ausrede, um den Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung zu intensivieren. Angriffe wie der, den wir aktuell erlebt haben, gab es etliche in den letzten Jahren – ob mit konstruierter “Provokation” oder vollkommen ohne. Die Angriffe bleiben jedoch nicht unbeantwortet: In den letzten Tagen gab es etliche Gegenschläge sowohl der Guerrilla in den Bergen als auch Milizaktionen der vereinten revolutionären Bewegung in der Türkei und Nordkurdistan. Das kurdische Volk ist nicht wehrlos. Aber auch Erdogan wird nicht gelogen haben, als er davon sprach, dass dies nur die “erste Phase” gewesen sei. Es ist seit Jahren klar, dass das Regime nicht still stehen wird, bis Rojava dem Erdboden gleichgemacht und die kurdische Freiheitsbewegung zerschlagen ist. Die Zerschlagung der Revolution in Kurdistan ist eine Existenzfrage für das faschistische Regime geworden. Genauso ist die Zerschlagung des Faschismus eine Existenzfrage für die Revolution.
Die Völker in Rojava haben in heldenhaften Kämpfen wie dem Kobane-Widerstand gezeigt, dass der Sieg in diesem Kampf keine reine Materialfrage ist. Auch wenn der Feind mehr Möglichkeiten hat, steht er einer organisierten und kampfbereiten Gesellschaft gegenüber. Deshalb versucht er heute, zu spalten: mit Angriffen auf die Revolution, welche als Überfälle arabischer Clans getarnt werden, versucht er die Völker Rojavas, besonders Araber:innen und Kurd:innen, zu spalten. Durch die Aushöhlung sämtlicher Lebensgrundlagen versucht er, die Überzeugung von der Revolution vom puren Hunger auffressen zu lassen und die Menschen aus der Region zu vertreiben. Gleichzeitig versucht er zu spalten zwischen den “guten”, staatstreuen und faschistischen Kurden wie der islamisch-kurdischen Partei Hüda-Par, welche in der Nachfolge der kurdischen Hizbullah steht, und den “bösen, terroristischen” revolutionären Kurd:innen in den Bergen – und in den Gefängnissen.
Als Revolutionär:innen ist es unsere Aufgabe, uns dieser Spaltung entgegen zu stellen: zu zeigen, dass die arabischen und kurdischen Völker Seite an Seite für ihre Befreiung kämpfen müssen, gegen die Spaltung des kurdischen Volkes anzukämpfen und es in seinem Befreiungskampf zu vereinen. Um die Revolution zu verteidigen, müssen wir zum einen alles tun, um gegen die “Austrocknungsangriffe” das Überleben und den Kampf in Rojava zu unterstützen, zum anderen muss der antifaschistische Kampf gegen das Regime in der Türkei auf ein neues Niveau gebracht werden. Der Feind versucht, die Revolution von allen Fronten aus zu belagern – wir müssen die Belagerung umdrehen, von allen Fronten aus zurückschlagen und den Faschismus schwächen: geografisch wie auch politisch. Das faschistische Regime kann nur besiegt werden, die Revolution kann nur gewinnen, wenn wir mit allen Arbeiter:innen und Unterdrückten an einem Strang ziehen – als Kurd:innen für unsere nationale Selbstbestimmung, als Arbeiter:innen gegen unsere Ausbeutung, als Frauen und LGBTI+ für Selbstbestimmung über unsere Leben und Körper kämpfen und uns aus verschiedenen Richtungen im Kampf gegen den Faschismus und Krieg vereinen.
Ein, zwei, viele Rojava
Hier in Europa fallen uns Jugendlichen besondere Aufgaben in der Verteidigung der Revolution und des kurdischen Freiheitskampfes zu.
Erstens müssen wir von hier aus, Europa, unseren Teil zum Überleben der kämpfenden Bevölkerung in Rojava beitragen: Können wir eine Kampagne zur Unterstützung der studierenden Jugend in Rojava an unserer Universität starten? Können wir konkrete Unterstützung für die Menschen dort organisieren?
Zweitens müssen wir eine politische Antwort auf die Kämpfe auch hier aus Europa geben: Wenn Kurdistan angegriffen wird, müssen in jeder deutschen Stadt am selben Tag die Menschen auf den Straßen stehen! Wenn nicht wir als revolutionäre Jugendliche direkt Initiative zeigen, um die Hoffnung der Revolution zu verteidigen, wer dann?
Drittens müssen wir den türkischen Faschismus und seine Partner in Europa offenlegen und bekämpfen: Ein großer Teil türkischen Kapitals befindet sich in Europa. Türkische Faschisten sind organisiert in Vereinen, Moscheen und verschiedenen Institutionen. Parteien wie die Grünen geben sich einen fortschrittlichen Anstrich, aber paktieren schamlos mit faschistischen Regimen wie dem in der Türkei und halten es durch ihre Gelder und politische Unterstützung aufrecht. Wenn wir dem Faschismus einen Schlag versetzen wollen, dann müssen wir hier anfangen!
Viertens müssen wir auch hier aktiv gegen die Spaltungspolitik der Faschisten und Imperialisten ankämpfen, internationalistische, arabische und kurdische Jugendliche gemeinsam für den revolutionären Kampf organisieren: die Freiheitskämpfe von Palästina und Kurdistan gegen die heuchlerische Politik der Imperialisten verteidigen. Den zahlreichen Jugendlichen, die in den letzten Jahren aus Kurdistan und besonders aus Rojava nach Europa gekommen sind, eine konkrete Perspektive bieten, um nicht die Hoffnung zu verlieren und auch hier in Europa sich gemeinsam für die Befreiung Kurdistans zu organisieren.
Wenn heute jemand fragt, was uns Jugendlichen in einer Generation, die von Umweltzerstörung, Krieg, Depression und Ellenbogengesellschaft geprägt ist, noch Hoffnung für unsere Zukunft geben kann, dann ist die Antwort klar: die Revolution von Rojava, die uns jeden Tag zeigt, dass die neue Gesellschaft kein leerer Traum ist, sondern konkret erkämpft werden kann. Die Menschen von Rojava haben uns ein Vorbild, eine Hoffnung, eine Perspektive für unsere Zukunft gegeben. Genoss:innen wie Özgür und Ivana haben diese Hoffnung mit ihrem Leben verteidigt. Wir sind es ihnen und uns schuldig, unseren Teil zur Verteidigung dieser Zukunft beizutragen. Gestern waren es “ein, zwei, viele Vietnam”, heute müssen es “ein, zwei, viele Rojavas” werden.