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Eine Überführung, ein Monat und ein Aufruf an uns

An einem kalten Novembertag, auf einer Überführung begann die Reise. Am 4. November 1994 wurde der Genosse Erdal Balcı in Istanbul, Türkei, durch eine Polizeikugel unsterblich, als er an einer Banner-Aktion mitmachte, die die Gründung der Partei ankündigte. Schon mit 18 Jahren wurde er der erste Gefallene seiner Partei. Es war zum ersten Mal sein Name, der den Neugeborenen gegeben wurde, es war zum ersten Mal sein Name, an den man mit erhobenen Fäusten erinnerte, es war zum ersten Mal sein Name, den man den geworfenen Molotows widmete. Das Transparent, das er aufhängte, wurde zu Hunderten und Tausenden. Die Fahne, die er uns übergab, wurde mit Blut und Leben verteidigt. Nun weht diese Fahne an den Kriegsfronten in Rojava, in den freien Bergen Kurdistans, in den Arbeiter:innenvierteln und auf den Straßen Europas.

An einem kalten Novembertag, auf einer Überführung begann die Reise. Mit Genosse Erdal sprießt der Monat November. Dieser Keim ergrünte und breitete sich aus, und von da an war der November nicht mehr einfach nur November. Er wurde ein Zeichen, ein Aufruf.

Angesichts der Vergrößerung unserer revolutionären Ansprüche sind wir nun in der Zeit, den November zu begrüßen. Wie jedes Jahr werden wir den Monat November dem Erzählen, dem Verstehen, dem Erinnern, dem Begreifen der Unsterblichen widmen. Im Namen der Gefallenen der Revolution werden wir den Ruf des Novembers erneuern.

Revolution braucht Revolutionär:innen!

Wir befinden uns in Zeiten, in denen Kriege eskalieren, Krisen sich vertiefen, Armut und Hunger zunehmen, aber auch Aufstände sich in der Welt verbreiten. Die Ordnung kann nicht mehr herrschen wie früher, die Unterdrückten wollen nicht mehr so beherrscht werden wie früher. Mit den Worten von Gramsci: „Es ist die Zeit der Monster“, und die Monster werden jeden Tag wilder.

Die Aktualität der Revolution verbreitet sich unter den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Und diese Aktualität gründet sich nicht mehr auf die „Möglichkeit“ sondern auf die „Notwendigkeit“ der Revolution.

Die Revolution wird das Werk der Massen sein. Also braucht die Revolution Menschen, dringendere Revolutionär:innen. Genauer gesagt, wir brauchen gewidmete Revolutionär:innen, die sich mit den Worten von Che bewaffnen: „Ich habe kein Leben außer der Revolution, und es gibt nichts, was ich nicht für die Revolution tun könnte.“

Dies ist der Aufruf des Novembers an uns: die Schaffung gewidmeter Revolutionär:innen. Denn die Widmung ist das Entscheidende. Ein:e Revolutionär:in kann Schwächen und Mängel haben, die noch nicht überwunden werden konnten. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass Schwächen nicht unabänderlich sind, und für einen Revolutionär:in, der seine/ihre Widmung verabsolutiert hat, sind Schwächen wie Sandburgen. Oder vom Gegenteil: ein:e Revolutionär:in kann fortgeschrittene Talente und herausragende Stärken haben. Aber wenn diese nicht durch eine revolutionäre Widmung vervollständigt werden, sind sie zum Verfall verurteilt.

Gewidmetes Revolutionärsein bedeutet, sich für die Revolution einzurichten und dafür eine Aufopferungsbereitschaft aufzubringen. Und die Aufopferungsbereitschaft entsteht durch den Glauben an die Sache, für die geopfert werden soll, in diesem Fall also den Glauben an die Revolution. Sogar im weitesten Sinne braucht es einen Glauben an Veränderung. Um es wieder mit den Worten von Che zu sagen: „Um etwas zu tun, muss man es sehr lieben. Um etwas sehr zu lieben, muss man bis zur Verrücktheit daran glauben.“

Und die Diskussion darüber, ob man an Veränderung glaubt oder nicht, ist wie eine Diskussion über den Glauben an die Evolution (oder eine andere wissenschaftliche Tatsache), denn sie ist eine objektive Realität. Die Dialektik sagt, dass alles ständig im Wandel ist. Alles ist also in Bewegung, alles verändert sich, und somit verfestigt sich die materielle Basis des revolutionären Glaubens.

Aber der Glaube an Veränderung reicht dem gewidmeten Revolutionärsein nicht aus. Letztendlich braucht man etwas „Konkretes“, dem man sich widmen kann. Und das ist nichts anderes als das Kollektiv, genauer gesagt das Programm und die Linie der Revolution. Die Widmung an Programm und Linie ist auch das, was uns mit den Unsterblichen, mit den Gefangenen, mit den Genoss:innen, die in verschiedenen Bereichen der Revolution kämpfen, mit etwas Größerem verbindet. Die Widmung an Programm und Linie ist das, was den Genossen Erdal zum Militant der Banneraktion gemacht hat, es ist das, was Ivana zur Guerilla voller Hoffnung und Nächstenliebe gemacht hat, was Baran Serhat zum Kommandant von Rojava gemacht hat.

Nicht nur einmal, immer vorwärts!

Marx und Engels behaupten, dass „der Aufstand eine Kunst ist“ und, „dass die Hauptregel dieser Kunst die mit verwegener Kühnheit und größter Entschlossenheit geführte Offensive ist“.

Auch wenn wir davon ausgehen können, dass sie damit einen bewaffneten Aufstand gegen die „herrschende Macht“, die die Form eines konkreten Staates hat, meinten, lässt sich dies auch auf den Kampf gegen die „herrschende Macht“ in unseren Köpfen beziehen.

Der Teil, der hier unterstrichen werden sollte, ist, dass „die Hauptregel die mit verwegener Kühnheit und größter Entschlossenheit geführte Offensive“ ist. Die kühne und entschlossene Offensive gegen den Feind, also die herrschende Macht, ist der Grundstein für den Sieg. Sowohl der bewaffnete Aufstand/die soziale Revolution gegen den konkreten Staatsapparat als auch der ideologische Kampf/die individuelle Revolution, die wir gegen kleinbürgerliche Denk- und Verhaltensweisen führen, sollten die Notwendigkeit einer ununterbrochenen „Offensive“ nicht vergessen.

Für eine:n Revolutionär:in, diesen kühnen und entschlossenen Offensiven zu führen, kommt von der Schaffung von Brüchen und Sprüngen. Beispielsweise hat ein:e Revolutionär:in, der sich dem organisierten Kampf anschließt und die revolutionäre Arbeit in einer Organisation beginnt, einen Bruch mit dem kleinbürgerlichen Leben vollzogen und einen Sprung organisiert. Das ist ein revolutionärer Schritt, ein wichtiger Schlag gegen die „herrschende Macht“, aber es ist erst der Anfang. Man darf es nicht bei diesem ersten Schritt belassen, der ideologische Kampf gegen die kleinbürgerlichen Gewohnheiten muss entschlossen und kühn sein, die Offensive gegen die Schwächen muss kontinuierlich sein. Zugleich müssen Sprünge gemacht werden, um die gegebenen Grenzen zu überwinden und neue Ebenen zu erreichen.

Diese Offensiven, diese Brüche und Sprünge sollten konstant sein und die gemachten Schritte sollten immer nach vorne gerichtet sein, denn wenn wir wieder zur Dialektik zurückgehen, ist alles in Bewegung. Wer keine Schritte vorwärts macht, wer nicht vorankommt, also wer sich nicht bewegt, der fällt in der Regel zurück.

Diese Brüche und Sprünge ständig zu organisieren ist der andere grundlegende Aufruf des Novembers an uns. Von den Praktiken der Brüche und Sprünge der Unsterblichen zu lernen, davon zu lernen, wie Yasemin Çiftçi in ihrer schwersten Zeit zur Untergrundarbeit überging, davon zu lernen, wie Ivana ihr Leben und alles in Deutschland verließ, um in die Länder der Revolution zu rennen, von Medine Özmez, Ulaş Alankuş und vielen anderen zu lernen, die in den harten Zeiten nach dem Suruç-Massaker ihr Gesicht den freien Bergen Kurdistans zuwandten, mit dem Schrei nach Rache, alles zurücklassend, ist die aktuellste Aufgabe aller jungen Kommunist:innen, besonders im November.

Konkretheit der Verbundenheit mit Unsterblichen

Der MLKP-Kommandant Baran Serhat, der in Rojava durch die Ermordung des faschistischen türkischen Regimes unsterblich wurde, sagte Folgendes: „Die Verbundenheit mit den Märtyrer:innen, die Verbundenheit mit den Werten, die Verbundenheit mit der Partei, das ist etwas Konkretes, das ist nicht nur etwas Wörtliches. Es ist etwas mit Aktion!“

Ohne zu vergessen, dass unsere Unsterblichen letztendlich Revolutionäre sind, die genauso wie wir Schwächen und Fehler hatten, müssen wir uns diese Frage stellen: Was sind die herausragenden Eigenschaften unserer Unsterblichen? Hingabe, Aufopferung, genossenschaftliche Liebe, Disziplin, Feindesbewusstsein, Militanz, die Liste lässt sich fortsetzen. Sind diese Beispiele nicht konkret genug? Der Revolutionär, der eine disziplinierte Arbeitsweise hat, der mit seinem Militanz in Aktionen glänzt, der die Räume mit seiner genossenschaftlichen Liebe in seinen Bann zieht, der sich „ohne Zögern“ für die Bedürfnisse der Revolution einsetzt, hat offensichtlich die Verbundenheit mit den Unsterblichen konkretisiert und bei sich verinnerlicht. Aber wer keinen Willen zeigt, diese zu verinnerlichen, wer sich nicht bemüht, dies zu konkretisieren, wer Kompromisse mit Schwächen eingeht, erfüllt eindeutig nicht die Voraussetzungen, um sich den Unsterblichen verbunden zu fühlen. Ihre Verbundenheit hat keinen wirklichen Wert, und eine solche „Verbundenheit“ wird in den Kampfreihen nicht gebraucht.

Die Maßstäbe für die Verbundenheit mit den Unsterblichen sind also konkret und klar: Werde ich die Aktionen ausführen, die sie getan haben? Werde ich in ihre Fußstapfen treten? Werde ich die Eigenschaften, die sie auszeichnen, verinnerlichen?

Gewöhnliche Kämpfer:innen eines gewöhnlichen Kampfes

Am Anfang sprachen wir über eine Reise, die im November begann. Man muss betonen, dass diese Reise ihre Wurzeln vor Tausenden von Jahren hat, sie ist alt und „gewöhnlich“ wie der Mensch selbst. In der Sklavenarmee von Spartakus, in den jahrhundertealten Bauernaufständen, auf den Barrikaden der Pariser Kommune, in den Straßen von Petrograd im Oktober, in den Panzern an den Fronten von Stalingrad, in den engen Straßen von Kobanê: Diese Reise gehört zu uns allen. Die erzählte Geschichte ist unsere Geschichte.

Die Figuren einer „gewöhnlichen“ Geschichte sollten auch genauso gewöhnlich sein. Auch sie waren in Jugendorganisationen, auch sie hielten Fahnen bei Aktionen, verteilten Flugblätter und riefen Parolen. Auch sie kämpften gegen ihre Schwächen, manchmal waren sie erfolgreich, manchmal nicht. Manchmal machten sie ernsthafte Fehler und erlebten große innere Spannungen. So wie sie gelacht haben, haben sie auch geweint, so wie sie ernst waren, haben sie auch dumme Witze gemacht.

Bei allem sind sie gewöhnlich, das Einzige, was sie ungewöhnlich macht, ist, dass sie menschlich sind. Sie fragten sich selbst: „Wenn nicht du, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Mit dieser Frage haben sie ihr Leben dem Kampf gewidmet, mit der Antwort, die sie gegeben haben, sind sie das Licht auf dem Weg, den wir heute gehen.

Um dem Ruf des Novembers zu folgen, lasst uns selbst fragen: „Wenn nicht du, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Es lebe die, die für ein besseres Morgen kämpfen und gefallen sind!