Der ESP Ko-Vorsitzende Şahin Tümüklü war mit einer Delagtion der ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten) als eine der ersten vor Ort in den Erdbebengebieten. Wo der Staat keine Hilfe bereitstellte, war es unter anderem die ESP, die als erste vor Ort half. Für die Nachrichtenplattform ETHA hat er einen Text geschrieben, den wir hier übersetzt veröffentlichen wollen.
Durch das Erdbeben, welches 10 Städte getroffen hat, sind die Menschen der eigenen Verzweiflung über die Zerstörung überlassen worden. Als wir am Morgen des zweiten Tages im Erdbebengebiet, in Antakya, ankamen, sahen wir überall zerstörte Häuser und hörten Geräusche, die unter den Schuttbergen hervorkamen, verletzte Menschen neben den Trümmern, die um Hilfe bei der Rettung ihrer Angehörigen aus den Trümmern baten. Obwohl es schon zwei Tage her war, waren wir in Antakya mit der Realität eines Staates, der taub für die Hilfeschreie der Menschen war, konfrontiert. Einem Staat, der keine Rettungsteams oder Bagger sendete, der gefühllos war gegenüber den Kindern und Alten, die frieren und um Zelte betteln, der so unvorbereitet und unfähig war, auch nur eine Decke zu verteilen.
Angesichts dieser Situation hörten wir auch dort Fragen wie „Ja, das Erdbeben war stark, aber konnte das faschistische Chefregime die Situation nicht bewältigen oder wollte es das nicht?“ oder „Warum kam der Staat nicht direkt zur Hilfe?“.
Wir wissen, dass das faschistische Regime auf der Seite des Kapitals steht, wir wissen das durch die Baugenehmigungen, durch die Ausplünderung der Natur, durch den unkontrollierten Bau von Gebäuden. Die Daseinsberechtigung für das faschistische Regime ist es, die Ordnung für das Kapital zu sichern. Deshalb schützt es die Bosse mit Soldaten gegen die Völker. Auf der anderen Seite gibt es auch die Realität des Regimes, das alles, was es hat, in den Krieg investiert und ihn als existentielles Problem betrachtet. Sie hat zwar Kampfflieger und Drohnen, Satelliten und Thermalkameras, um die Berge und Täler zu scannen und den Kampf des kurdischen Volkes zu unterdrücken, aber sie hat weder den Plan noch die Fähigkeit, zu scannen und herauszufinden, wo sich Menschen unter den Trümmern befinden. Es gibt ein System, das darauf ausgerichtet ist, zu töten, aber feindlich gesinnt ist, leben zu lassen. Wir haben wieder einmal gesehen, dass der Staat keine Zelte oder Rettungsgeräte und -ausrüstung für Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Waldbrände bereithält. Wir haben die Realität des Staates, dass er den Menschen nicht einmal Wasser oder Zelte zur Verfügung stellen konnte, dass die Menschen in den ersten 5 Tagen vor Kälte gestorben wären, wenn es nicht die Stadtverwaltungen einiger Städte gegeben hätte. Wir haben die Realität des Staates, dass er in den letzten 20 Jahren 88 Milliarden Lira (ca. 37 Mrd. Euro) Erdbebensteuern eingenommen hat, aber immer noch keine Vorbereitungen für das Erdbeben getroffen hat. Es ist klar, dass das ganze Geld, was durch die Steuer eingenommen wurde, in das Profitsystem der bürgerlichen Ordnung geflossen ist. Während der Staat schon überfordert war, die Wirtschaft oder die Politik in den Griff zu bekommen, konnte er diese außergewöhnliche Situation nicht bewältigen, und sie konnte sie auch nicht in den Griff bekommen. Um diese Krise der Unfähigkeit und Verzweiflung zu verbergen, rief die AKP/MHP-Regierung den Ausnahmezustand aus. Das Regime des faschistischen Diktators ist schon seit langem der Ausnahmezustand. Aber warum hat er eine solche Methode angewandt? Weil er seine Unfähigkeit, die Krise und Schwäche verbergen will, weil er die Empörung der Völker verhindern will. Zu diesem Zweck heizen sie die Feindlichkeit gegen Geflüchtete an. Nicht nur die Regierung, sondern auch faschistische Strukturen wie Zafer Partisi (dt: Partei des Sieges) machen Geflüchtete zur Zielscheibe.
Mit dem Theater um Plünderer versucht der Staat seine eigene Unfähigkeit zu verbergen, aber auch die Wut der Menschen gegen den Staat umzulenken. Wenn wir uns diejenigen ansehen, die die Leute als Plünderer bestrafen, sehen wir, dass es die Polizei, die Soldaten, ihre Kontraguerilla-Gruppen sind, die dieses Mal Sportschuhe tragen.
Die Ausrufung des Ausnahmezustands in 10 Städten hat auch eine andere Seite. Sie versuchen, einen Aufstand in Orten wie Antakya und Samandağ zu verhindern, die während des Gezi-Aufstandes zu Zentren des Widerstands wurden. Der Staat verfolgt auch die Politik, diese Orte zu dehumanisieren, indem er die Verzweiflung der Menschen vor Kälte und Hunger ausnutzt. Vor allem an einigen Orten wurden die Menschen in andere Städte verwiesen. Sie organisieren eine Migration in die verschiedenen Teile des Landes. Auf diese Weise versuchen sie, die Dynamik der Wut und des potenziellen Aufstands zu zerstreuen.
Bei den Gesprächen am Feuer schweigen alle, angesichts des Feuers des Schmerzes finden es alle sogar demütigend, nebeneinander zu weinen, aber die Menschen vereinen sich in der Wut gegen den Staat. Der Staat war gar nicht da, er hat die Bedürfnisse der Menschen in keiner Weise erfüllt, die Menschen loben Vereine wie Ahbap (türksiche Hilfsorganisation), sie sagen, Gott sei Dank sind die Revolutionär:innen da. Die Hetzer des faschistischen Chefs erzählen nun überall, wie toll der Staat sei usw. Erfolg haben sie damit nicht.
Neben dieser Unfähigkeit des Staates gab es Revolutionär:innen, die den Menschen auf der Straße begegneten, die sich einsetzten, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, die mit dem ersten gefundenen Auto in die Erdbebengebiete kamen, die das Erdbeben selbst gerade erst überlebt hatten. Sie organisierten Solidaritätsnetzwerke, die für die Menschen da waren, die die Möglichkeiten, die sie hatten, mit den Menschen teilte. Vor allem gegen die Diskriminierung des Staates, der keine Rettungsteams in die Orte schickte, in denen hauptsächlich Alevit:innen, Kurd:innen, arabische Alevit:innen leben, waren Revolutionär:innen in Harbiye, Antakya, Samandag, Nurhak, Elbistan, Pazarcik für die Unterdrückten da. Sie organisierten die Hilfe, die kam und organisierten das Gemeinschaftsleben von der Morgensuppe bis zum Abendessen. Sie schufen mobile Gesundheitsstationen, die Ärzte behandelten die Verletzten an den Trümmern. Sie verteilten die Hilfsgüter und -mittel in den Dörfern und auf den Straßen mit Hilfe lokaler Koordinationen. Einige Menschen, die AFAD oder dem Türkischen Roten Kreuz nicht vertrauten, kontaktierten diese Koordinationsstellen und Solidaritätsnetzwerke, um Hilfe zu schicken. Sie kümmerten sich um die dringenden Bedürfnisse der betroffenen Menschen. Diese Koordinierungsstellen und Räte, die versuchten, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, wenn auch vielleicht nur auf einem niedrigen Niveau, wurden zum Kern der Selbstverwaltungsorganisationen. Vielleicht waren diese verstreut und in ihren Kapazitäten begrenzt, aber die gemeinsame Aktion brachte sie zusammen. Sie haben den Pessimismus, die Hoffnungslosigkeit und den Schmerz mit einer organisierten Haltung überwunden. Mit dem Verständnis der Selbstverwaltung haben sie den Gemeinschaftsgeist des Gezi-Aufstandes wiederbelebt. Am vierten Tag, als die staatlichen Kräfte mit Waffen in der Hand kamen und die Leute fragten „wisst ihr, wer die sind?“, antworteten ausnahmslos alle „ja, wir kennen sie, die Revolutionär:innen waren die ersten, die uns zu Hilfe kamen, sie waren die ersten, die unsere Schmerzen heilten, die ersten, die uns Essen brachten, wo war der Staat?“ Das hat gezeigt, dass die Menschen nicht verzweifelt sind, sondern dass sie, wenn sie organisiert sind, die Kraft haben, Probleme in allen Situationen zu lösen, und es hat auch gezeigt, wie sie gegenseitiges Vertrauen schaffen können. Da es wieder einmal das Potenzial des gesellschaftlichen Kommunenlebens zeigte, wurden der Wunsch und die Praxis der Selbstorganisierung der Menschen auch nach dem Gezi-Aufstand zu wichtigen Erfahrungen. Es ist jetzt an der Zeit, an diesem Punkt anzuknüpfen und die Selbstorganisation unserer Völker und den vereinten Kampf gegen das faschistische Regime zu stärken.