Yasemin Çiftçi wurde in einer kurdischen Arbeiterfamilie, die aus Urfa nach Adana einwanderte geboren. Sie war schon in jungen Jahren politisch aktiv, kämpfte gegen den Faschismus, organisierte Aktionen an ihrer Schule oder kämpfte für die Befreiung der Frau. Als Teil der MLKP schloss sie sich unter dem Namen Zilan dem organsiserten Untergrundkampf in Istanbul an. Am 09. Februar 2012 wurde Yasemin Çiftçi bei der Vorbereitung einer Aktion im Alter von 23 Jahren unsterblich. Wir veröffentlich hier ihren letzten Brief, in dem sie ihren Weg zur Vorkämpferin für Frauenrevolution und Sozialismus beschreibt, aber auch von Hindernissen, die auf diesem Weg auftreten, erzählt.
„Marxist:innen verwenden Methode der Dialektik. Eines der Gesetze der Dialektik lautet: Alles verändert sich, denn im Kern von allem liegt ein Widerspruch.“ Ich möchte meine Worte mit einem kurzen Zitat aus den Grundprinzipien der Philosophie beginnen. Ich glaube, dass ein Mindestmaß an historischem Materialismus und Dialektik im philosophischen Verständnis unabdingbar ist, um einen vollständigen Wandel herbeizuführen.
Ich schreibe diesen Text als eine Person, die dem traditionellen Frauenbild und den kleinbürgerlichen Gewohnheiten den Krieg erklärt hat und als jemand, der von sich selbst behauptet eine kriegerische und freie kommunistische Frau zu sein. Mit dem Widerspruch, den ich aufgrund meiner Schwächen, der kleinbürgerlichen Gewohnheiten und des traditionellen Frauenbildes in mir trage und welche in meiner Entwicklung immer wieder zu Rückschlägen führten, machte ich einen Schritt in eine chaotische Richtung. Dieses Chaos kann für eine traditionelle Frau und eine Person, die darauf fixiert ist, ihr Leben entsprechend einer bestimmten Ordnung zu führen, beängstigend sein. Aber vielleicht ist das neue Unbekannte, welches im ersten Moment chaotisch erscheint, doch besser als das Alte; als das Gewohnte.
Ich wurde damit konfrontiert eine neue unabhängige Frau zu erschaffen. Ich wurde herausgefordert einen neuen Weg einzuschlagen. Wie für viele andere Menschen war die Konfrontation mit der Institution der Familie auch für mich die erste Herausforderung. Auch wenn das vor allem für Frauen eine große Herausforderung darstellt, schaffte ich, genauso wie viele andere, eine erfolgreiche Konfrontation. Die größte Schwierigkeit für uns Frauen hierbei ist es, die eigenen Gefühle zu kontrollieren und in jedem Lebensbereich nicht den traditionellen Erwartungen, die an Frauen gestellt werden zu verfallen. Auch für mich galt das. Um eine professionelle Revolutionärin zu werden habe ich meine Familie, meine Schule und anderes hinter mir gelassen und mich auf einen Weg begeben. Ich arbeitete mit demokratischen Massen. Es gab Höhen und Tiefen, aber insgesamt war meine Arbeit erfolgreich. Bis zu dem Punkt, als ich eine Phase erreichte, die mir meine Arbeit erschwerte und mich schwächte. In dieser Phase stagnierte ich zuerst und es kam danach sogar zu Rückschlägen. Mein erster Rückschritt war es, einen Ort zu finden, an den ich flüchten konnte und an dem ich mit meinen egoistischen Gefühlen eine emotionale Beziehung eingehen konnte. Diese Beziehung zu meinen Gefühlen rückte in das Zentrum meines Lebens und schwächte mich in meiner Fähigkeit Herausforderungen anzunehmen und diese zu meistern. Dies führte mit der Zeit zu noch mehr Rückschlägen, es offenbarte meine Schwächen der kleinbürgerlichen Gewohnheiten und die Schwächen in meiner revolutionären Arbeit, gleichzeitig verstärkte es eine egoistische Denkweise. Diese reaktionären Gefühle störten mich und machten mich unglücklich. Ich habe jedoch keine Schritte getan, um diese Probleme anzugehen und zu lösen.
Es ist schwer für mich, mich meinem wahren Ich und meinen Schwächen zu stellen, ich vermeide es deshalb sie anzugehen. Ich fand keinen Weg die Wurzel meiner Probleme, die ideologischen Herausforderungen, praktisch zu lösen.
Ich versuchte meine Probleme individualistisch zu lösen. Man könnte mir nachsagen, dass ich jammerte. Anstatt, dass ich versuchte meine Probleme zu lösen, stagnierte ich an einem bestimmten Punkt und blieb dort hängen. Anstatt zu versuchen die revolutionäre Arbeit zu vertiefen und der Arbeiter:innenklasse zu dienen, erwartete ich stets eine Gegenleistung für jeden Schritt, den ich tat, und nahm gewisse Situationen persönlich. Meine rückschrittlichen und fortschrittlichen Gefühle kämpften gegeneinander an. Dieser Kampf machte es mir Entscheidungen zu treffen und mir einen Weg auszumalen. Ihr könnt euch nicht vorstellen wie sehr diese Rückschritte und Schwächen jemanden zurückwerfen.
Genau in dieser Phase begegnete ich der mühseligen Arbeit der Partei. Ein Kommunist bot das mir an, wovon ich vorher nur träumte: Im Untergrund für die Rechte der Unterdrückten in der revolutionären Praxis tätig zu sein. Ich habe ein solches Angebot nicht erwartet; es bedeutete für mich Chaos. Mir war bewusst, dass ich dieses Angebot annehmen musste, um eine wichtige revolutionäre Arbeit zu machen, eine kämpferische und unabhängige Frau zu sein und um meine rückschrittlichen Eigenschaften zu bekämpfen.
So ging ich meinen ersten Schritt. Die Annahme dieses Angebots war der Schritt dahin, mich von all meinen Lasten zu befreien. Ich erlöste mich aus einem Chaos, verließ es und betrat eine reine Welt.
Als ich anfing im Untergrund tätig zu sein, merkte ich wie sehr ich zuvor unwichtigen Sachen eine zu große Bedeutung in meinem Leben gab. Zum Beispiel spielten Klamotten in meinem Leben eine viel zu große Rolle. Während mich eine Veränderung von Kopf bis Fuß erwartete, fiel mir auf, wie viele Sachen mir physisch, aber auch psychisch auf mir lasteten. Sich von der physischen Last zu befreien war leichter. Deutlich schwieriger war es jedoch, meine reaktionären Gefühle zu offenbaren und gegen sie anzukämpfen, ohne dabei zu verzweifeln. Auch die irrelevanten physischen Probleme finden sich in unseren rückschrittlichen Gefühlen und Gedanken wieder.
Untergrundarbeit verändert den Blick auf das Leben. Man muss jedes einzelne Detail im Leben mit einem anderen Auge und mit Aufmerksamkeit betrachten. Denn selbst ein kleiner Fehler kann großen Schaden anrichten. In diesem Bereich entblößt du dich, wenn du nicht offen und klar bist, wenn du dein Bewusstsein nicht auf die höchste Ebene tragen kannst. Wenn du nicht für diese Veränderung kämpfst, dann kannst du dich nicht selbst produzieren und du wirst in deiner Entwicklung zurückfallen. Aber wenn du jeden deiner Momente dem revolutionären Kampf widmest, wenn du dich auf alle Situationen entsprechend den Bedürfnissen des Kampfes vorbereitest, bedeutet das, dass du dein Revolutionärsein produzierst und keine Kompromisse mit deinen Schwächen eingehst. Letztendlich verläuft das Leben nicht gleichförmig und man kann Fehler machen, aber es ist so wichtig, diese Fehler zu minimieren, Lehren aus ihnen zu ziehen und den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Bei der Untergrundarbeit ändert sich auch dein Feindbild. Denn die Fronten sind sehr klar, der Feind sieht dich als MLKP-Militante und gegen seine Waffe hast du auch deine eigene Waffe. Das Gefühl des Todes nimmt einen Platz in meinem Leben ein. Aber nicht, weil ich Angst habe, sondern weil ich begonnen habe, das Leben mehr zu lieben, fällt mir der Gedanke an den Tod leichter.
Man versteht und spürt sehr stark, wie wichtig und wertvoll der/die Genoss:in neben einem ist. Das Gefühl, ihn/sie jederzeit verlieren zu können, verwandelt sich in eine Energie, die deine Beziehungen zu ihm/ihr intensiviert und deine Liebe verstärkt. Es ist so wichtig, alles unbegrenzt zu teilen, deine Liebe zu deinen Genoss:innen und deine unendliche Wut auf den Feind zu organisieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Ich bin mir bewusst, dass ich bei all dem noch ganz am Anfang stehe, ich bin mir bewusst darüber, dass ich oft oberflächlich bin. Aber ich kämpfe dagegen an und die Praxis zwingt mich zu einer gewissen Veränderung.
Die Beziehung, die wir mit dem Raum, der unser Haushalt ist, aufbauen, wird mehr als ein gewöhnliches Hausleben. Denn dieser Raum ist im Grunde unser Stützpunkt. Die Stützpunkte der MLKP-Militanten müssen ihrer würdig sein und ihren Zweck erfüllen. Ich war zum Beispiel mit der Realität konfrontiert, jede Tätigkeit, jeden Schritt mit Sorgfalt und Disziplin zu organisieren.
Derzeit kommen meine alten Gewohnheiten zum Vorschein; ich finde in mir selbst die Kraft und den Willen, sie abzulegen.
In der ersten Zeit, als ich Aufgaben übernommen habe, habe ich einige kleine Fehler gemacht, aber wir haben diese Situationen schnell bewältigt und unsere Lehren daraus gezogen.
Einen Bruch mit meinem alten Leben zu begehen und in den Untergrund zu gehen, führte bei mir innerhalb kurzer Zeit zu (positiven) Veränderungen. Und der Veränderungsprozess geht immer weiter. Ich habe begonnen, eine neue Persönlichkeit zu erschaffen. Dieser Prozess hat mein Vertrauen in die Entwicklung und die Veränderung gestärkt.
Seit dem Moment, als ich in der Verantwortung war, selbst zu handeln, mit der eigenen Kraft zu kämpfen und eine „Revolutionärin harter Zeiten“ zu werden, bin ich damit konfrontiert, eine einfache Persönlichkeit zu erschaffen, um diese in eine revolutionäre Situation zu verwandeln. Es gibt Schritte, die ich dafür gemacht habe. Aber wie ich schon sagte: Ich stehe noch ganz am Anfang. Und ich bin mir bewusst, dass ich mit mir selbst in die Diskussion und die Konfrontation gehen muss.
In diesem Prozess, in dem ich mit den meisten meiner rückschrittlichen Eigenschaften in einen offenen Krieg gegangen bin und in dem ich praktische Schritte unternommen habe, habe ich erkannt, dass das, was mich beschäftigt, wieder mit meiner Rolle als Frau und meinem Frausein zusammenhängt. Meine Annäherung an diesen Wissensbereich ist im Moment noch oberflächlich. Für einen wirklichen Bruch mit meinen bürgerlichen Eigenschaften ist es notwendig mir mehr Theorie anzueignen und geistige Arbeit zu leisten.
Ich habe einen Neuanfang gemacht. Ich kann sagen, dass sich mein Leben auf den Kopf gestellt hat. Ja, alles trägt in seinem Kern den Widerspruch. Ich habe einen revolutionären Schritt gemacht, indem ich die Rolle, die das System für Frauen vorsieht, nicht akzeptiert habe, und das in einer Zeit, in der ich in meiner Entwicklung zurückfiel und in der ich für mich nach sicheren Rückzugsorten für mich und meine Gedanken suchte. Ich habe mich dem Kampf gestellt, eine kämpferische, freie Frau zu sein. Es gibt Rollen, in denen ich mich heute und in kommenden Zeiten sehe.
Ich bin mir bewusst, was ich als eine kommunistische Frau für die Befreiung der Arbeiter:innenklasse, also für den Kampf für Sozialismus und Revolution, tun kann. Jeden Moment meines Lebens nach den Bedürfnissen des Klassenkampfes zu organisieren… Und ich denke, dass es in meinem Kampf besonders wichtig ist, eine freie Frau zu erschaffen, kämpferisch zu sein und nicht zuletzt eine gute revolutionäre Kämpferin oder Kommandantin zu sein.
Die große Bedeutung der Untergrundarbeit und der militärischen Front des Kampfes, zur Befreiung einer Frau, ist für mich sonnenklar.
Das Licht der Revolution ruft uns auf „das Haus der Dunkelheit in Brand zu setzen, um die Freude zu erobern.“ Als eine kommunistische Frau, die ihren Weg für eine grenzenlose, klassenlose Welt ohne Ausbeutung gemacht hat, mache ich große Schritte auf dem Weg, „Feuer im Haus der Dunkelheit zu entzünden“.