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„Imperialistischer Ökonomismus“ im 21. Jahrhundert: Die Karikatur auf den Marxismus am Beispiel der kurdischen Frage (Teil 1/2)

Gastbeitrag von Deniz Boran

„Lohnt es, soviel Aufhebens davon zu machen, daß wir den Marxismus in „Ökonomismus“ verfälscht und aus unserer Politik eine Wiederhholung der Reden echt-russischer Chauvinisten gemacht haben?“

Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus

Warum eine weitere Polemik?

„Der Sieg des Marxismus in der revolutionären Bewegung zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war begleitet von einer Karikatur auf den Marxismus in Gestalt des damaligen „Ökonomismus“ oder des „Streikismus“, und die „Iskristen“ hätten die Grundlagen der proletarischen Theorie und Politik weder gegen die kleinbürgerliche Volkstümlerrichtung noch gegen den bürgerlichen Liberalismus erfolgreich verteidigen können, wenn sie den „Ökonomismus“ nicht lange Jahre hindurch bekämpft hätten.“ [2]

Die Methode

„Es ist umstritten, ob es ein kurdisches Volk und eine kurdische Sprache gibt oder ob mehrere kurdische Völker und mehrere kurdische Sprachen existieren. Gleichzeitig ist es ungeklärt, ob die Kurden eine eigenständige Nation sind. Es gibt die These, dass die Kurden (sowie andere Völker auch) in der Türkei seit der Gründung der Republik und der Entstehung der türkischen Nation ein Teil der türkischen Nation sind. Verteidiger dieser These gehen teilweise davon aus, dass es im Laufe der Zeit nie zu einer Herausbildung einer eigenständigen kurdischen Nation kam […] Die verschiedenen Definitionen dazu und die Debatte darum möchte ich jedoch ausklammern und die Annahme treffen, dass es eine/mehrere kurdische Nationen gebe.“ (Hensgen)

***

„Damit es wirklich ein Fundament wird, kommt es darauf an, nicht einzelne Tatsachen herauszugreifen, sondern den Gesamtkomplex der auf die betreffende Frage bezüglichen Tatsachen zu betrachten, ohne eine einzige Ausnahme, denn sonst taucht unvermeidlich der Verdacht, und zwar der völlig berechtigte Verdacht auf, daß die Tatsachen willkürlich ausgewählt oder zusammengestellt sind, daß nicht der objektive Zusammenhang und die objektive wechselseitige Abhängigkeit der historischen Erscheinungen in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, sondern daß es sich um ein „subjektives“ Machwerk zur Rechtfertigung einer vielleicht schmutzigen Sache handelt. Das kommt vor . . . und häufiger, als man denkt.“ [3]

Noch einmal zur leninistischen Herangehensweise an die nationale Frage

„Die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen ist für die Bourgeoisie zum Betrug geworden, für uns wird sie Wahrheit sein, eine Wahrheit, die die Gewinnung aller Nationen für unsere Sache erleichtern und beschleunigen wird. Ohne die demokratische Organisierung der Beziehungen zwischen den Nationen in der Praxis – und folglich auch ohne die Freiheit der staatlichen Lostrennung – ist der Bürgerkrieg der Arbeiter und der Werktätigen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich.“ [4]

„Über die Ausnutzung des bürgerlichen Demokratismus zur sozialistischen und konsequent-demokratischen Organisation des Proletariats gegen die Bourgeoisie und gegen den Opportunismus – einen anderen Weg gibt es nicht. Ein anderer „Ausweg“ ist kein Ausweg. Einen anderen Ausweg kennt der Marxismus nicht, wie ihn auch das wirkliche Leben nicht kennt. Die freie Lostrennung und die freie Vereinigung der Nationen müssen wir in diesen selben Weg einbeziehen, wir dürfen ihnen nicht ausweichen, dürfen nicht fürchten, daß das die „rein“ ökonomischen Aufgaben „beschmutzen“ wird.“ [5]

„Selbstbestimmung der Nationen ist dasselbe wie Kampf für vollständige nationale Befreiung, für volle Unabhängigkeit, gegen Annexionen, und diesen Kampf – in jeder seiner Formen, einschließlich Aufstand oder Krieg – können Sozialisten nicht ablehnen, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein.“ [6]

„Aber hier erhebt sich eben die Frage, die umgangen wird: Ist nicht die Ablehnung des Rechts auf einen eigenen nationalen Staat die Ablehnung der Gleichberechtigung? Natürlich ist sie das. Und die konsequente, das heißt sozialistische Demokratie verkündet, formuliert und verwirklicht dieses Recht, ohne das es keinen Weg zur vollen und freiwilligen Annäherung und Verschmelzung der Nationen gibt.“

Dass Hensgen ausgerechnet ein Zitat aus „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“ heranführt ist ein Beispiel für die weiter oben erläuterte willkürlich-eklektizistische Methode. Dieser Artikel von Lenin wurde geschrieben als eine Kritik an den Sozialdemokrat:innen, die das Selbstbestimmungsrecht als Prinzip ablehnten.

Um die Polemik weiterführen zu können, erachten wir es als eine Verantwortung gegenüber den Leser:innen, das aufgeführte Zitat zu vervollständigen. Im Folgenden füllen wir die weggelassenen Teile des Zitats (in Hensgens Artikel mit […] gekennzeichnet): [7]

„Dieses Beispiel führt uns, von einer etwas anderen Seite, zur Frage der internationalistischen Erziehung der Arbeiterklasse. Kann diese Erziehung – über deren Notwendigkeit und äußerste Dringlichkeit in der Zimmerwalder Linken Meinungsverschiedenheiten undenkbar sind – konkret die gleiche sein für die großen, unterdrückenden und für die kleinen, unterdrückten Nationen, für die annektierenden und für die annektierten Nationen?

Offenbar nicht. Der Vormarsch zum gemeinsamen Ziel: zur vollen Gleichberechtigung, zur engsten Annäherung und weiteren Verschmelzung aller Nationen erfolgt hier offenbar auf verschiedenen konkreten Wegen, ebenso wie, sagen wir, der Weg zu einem Punkt, der sich in der Mitte dieser Buchseite befindet, von einem Rande aus nach links, vom gegenüberliegenden Rande aus nach rechts führt. Wenn ein Sozialdemokrat einer großen, unterdrückenden und annektierenden Nation, der sich im allgemeinen zur Verschmelzung der Nationen bekennt, auch nur eine Minute lang vergißt, daß „sein“ Nikolaus II., „sein“ Wilhelm, Georg, Poincare usw. ebenfalls für die Verschmelzung mit den kleinen Nationen ist (mittels Annexionen) – Nikolaus II. für die „Verschmelzung“ mit Galizien, Wilhelm II. für die „Verschmelzung“ mit Belgien usw. -, so ist ein solcher Sozialdemokrat ein lächerlicher Doktrinär in der Theorie und ein Helfershelfer des Imperialismus in der Praxis.

Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden Ländern muß unbedingt darin liegen, daß sie die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer unterdrückenden Nation, der keine solche Propaganda treibt, als Imperialisten und Schurken zu behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung, selbst wenn der Fall der Lostrennung vor der Errichtung des Sozialismus nur in einem von tausend Fällen möglich und „durchführbar“ wäre.

Wir sind verpflichtet, die Arbeiter zur „Gleichgültigkeit“ den nationalen Unterschieden gegenüber zu erziehen. Das ist unbestreitbar. Aber nicht zur Gleichgültigkeit von Annexionisten. Dem Angehörigen einer unterdrückenden Nation muß es „gleichgültig“ sein, ob die kleinen Nationen seinem Staat oder dem Nachbarstaat oder sich selbst angehören, je nach ihren Sympathien: ohne diese „Gleichgültigkeit“ ist er kein Sozialdemokrat.“

Und somit wird unser:e Leser:in auch verstehen, dass sich Lenins folgende Worte, die zwischen zwei rausgeschnittenen Fragmenten geblieben sind, nicht auf die „Gleichgültigkeit“ der unterdrückten Nation, sondern der unterdrückenden Nation beziehen:

„Um ein internationalistischer Sozialdemokrat zu sein, darf man nicht nur an seine eigene Nation denken, sondern muß höher als sie die Interessen aller Nationen, ihre allgemeine Freiheit und Gleichberechtigung stellen.“

„In der „Theorie“ sind alle damit einverstanden, in der Praxis jedoch zeigt man gerade eine annexionistische Gleichgültigkeit. Das ist die Wurzel des Übels.“

„Leute, die sich nicht in diese Frage hineingedacht haben, finden es „widerspruchsvoll“, wenn die Sozialdemokraten der unterdrückenden Nationen auf der „Freiheit der Lostrennung“ beharren, die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen dagegen auf der „Freiheit der Vereinigung“. Etwas Überlegung zeigt jedoch, daß es einen anderen Weg zum Internationalismus und zur Verschmelzung der Nationen, einen anderen Weg aus der gegebenen Lage zu diesem Ziel nicht gibt und nicht geben kann.“

„Aber dieselben Argumente, die vom Standpunkt der besonderen Verhältnisse Polens in der gegenwärtigen Epoche richtig sind, sind offenkundig falsch in der allgemeinen Form, die ihnen gegeben worden ist. Solange es Kriege gibt, wird Polen in Kriegen zwischen Deutschland und Rußland stets ein Schlachtfeld bleiben; das ist kein Argument gegen größere politische Freiheit (und folglich auch politische Unabhängigkeit) in den Perioden zwischen den Kriegen. Dasselbe gilt auch für den Einwand, der die Ausbeutung durch fremdes Kapital und die Rolle eines Spielballs fremder Interessen betrifft.“

„Die Lage ist zweifellos sehr verwirrt, aber es gibt aus ihr einen Ausweg, bei dem alle Beteiligten Internationalisten bleiben: die russischen und die deutschen Sozialdemokraten, indem sie die bedingungslose „Freiheit der Lostrennung“ Polens verlangen, und die polnischen Sozialdemokraten, indem sie für die Einheit des proletarischen Kampfes in einem kleinen Lande und den großen Ländern kämpfen, ohne für die gegebene Epoche oder die gegebene Periode die Losung der Unabhängigkeit Polens aufzustellen.“

„Ein schwedischer Arbeiter hätte zwar den Norwegern raten können, gegen die Lostrennung zu stimmen, und hätte doch Sozialdemokrat bleiben können (die Volksabstimmung in Norwegen über die Frage der Lostrennung fand am 13. August 1905 statt und ergab 368 200 Stimmen für die Lostrennung und 184 dagegen, wobei ungefähr 80 Prozent der Stimmberechtigten an der Abstimmung teilnahmen). Aber jener schwedische Arbeiter, der, gleich der schwedischen Aristokratie und Bourgeoisie, den Norwegern das Recht abgesprochen hätte, diese Frage selbst zu entscheiden, ohne die Schweden, unabhängig von deren Willen, wäre ein Sozialchauvinist und ein Schuft gewesen, der in der sozialdemokratischen Partei nicht hätte geduldet werden können. Darin besteht die Anwendung des Paragraphen 9 unseres Parteiprogramms, über den sich unser „imperialistischer Ökonomist“ hinwegsetzen wollte. Versucht nur, euch darüber hinwegzusetzen, meine Herren, ohne in den Armen des Chauvinismus zu landen! Und der norwegische Arbeiter? War er vom‘ Standpunkt des Internationalismus verpflichtet, für die Lostrennung zu stimmen? Keineswegs. Er hätte dagegen stimmen und doch Sozialdemokrat bleiben können. Er hätte seine Pflicht als Mitglied der sozialdemokratischen Partei nur dann verletzt, wenn er einem solchen erzreaktionären schwedischen Arbeiter die Bruderhand gereicht hätte, der gegen die Freiheit der Lostrennung Norwegens gewesen wäre.

Diesen elementaren Unterschied in der Lage des norwegischen und des schwedischen Arbeiters wollen gewisse Leute nicht wahrhaben. Aber sie entlarven sich selbst, indem sie dieser konkretesten aller konkreten, politischen Fragen, die wir ihnen klipp und klar stellen, ausweichen. Sie schweigen, sie drehen und winden sich und geben damit ihre Position auf […]

Die Aktion der norwegischen und der schwedischen Arbeiter war in diesem konkreten, aus dem Leben gegriffenen Fall nur deshalb und insoweit „monistisch“, einheitlich, internationalistisch, als die schwedischen Arbeiter bedingungslos für die Freiheit der Lostrennung Norwegens eintraten, während die norwegischen Arbeiter die Frage dieser Lostrennung bedingt stellten. Wenn die schwedischen Arbeiter nicht bedingungslos für die Freiheit der Lostrennung der Norweger eingetreten wären, wären sie Chauvinisten gewesen, hätten sie sich am Chauvinismus der schwedischen Gutsbesitzer mitschuldig gemacht, die Norwegen mit Gewalt, durch einen Krieg, „zurückhalten“ wollten. Wenn die norwegischen Arbeiter die Frage der Lostrennung nicht bedingt gestellt hätten, d. h. so, daß auch Mitglieder der sozialdemokratischen Partei gegen die Lostrennung stimmen und Propaganda machen durften, dann hätten die norwegischen Arbeiter ihre Pflicht als Internationalisten verletzt und wären in einen engstirnigen, bürgerlichen norwegischen Nationalismus verfallen. Warum? Weil die Lostrennung von der Bourgeoisie vollzogen wurde und nicht vom Proletariat […]

Und die schwedischen Arbeiter hätten in einem solchen Fall nur dann das Recht und die Möglichkeit gehabt, gegen die Lostrennung zu agitieren und doch Sozialisten zu bleiben, wenn sie systematisch, konsequent, unaufhörlich gegen die schwedische Regierung, für die „Freiheit der Lostrennung Norwegens gekämpft hätten. Andernfalls hätten die norwegischen Arbeiter und das norwegische Volk nicht geglaubt und auch nicht glauben können, daß der Ratschlag der schwedischen Arbeiter aufrichtig ist.“ [8]

„[E]r kann sich nicht darüber klarwerden, wie der zur Tatsache gewordene Imperialismus mit dem Kampf für Reformen und mit dem Kampf für die Demokratie in Verbindung zu bringen ist, genauso, wie der „Ökonomismus“ seligen Angedenkens es nicht verstand, den zur Tatsache gewordenen Kapitalismus mit dem Kampf für die Demokratie in Verbindung zu bringen.“ [11]

Der Imperialismus ist ein Weltsystem und ist mit seinem komplexen System ein ökonomischer und politischer Organismus. Imperialistische Staaten gehören, genauso wie Neokolonien, zu diesem Organismus.

Der zweite Teil unserer Antwort erscheint am Samstag, dem 29.01. In diesem Teil werden wir uns mit der kurdischen Frage, der Geschichte Kurdistans und der Rolle von Kommunist:innen in der Region beschäftigen.


[8] Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „Imperialistischen Ökonomismus“