Gastbeitrag von Deniz Boran
Die kurdische Frage
Die kurdische Frage ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Fragen des Mittleren Ostens.
Erst einmal ist es wichtig, herauszustellen, dass die kurdische Frage nicht ignoriert werden kann. Alle politischen Subjekte – vor allem in der Türkei, Kurdistan, in Syrien, im Iran und Irak müssen sich zur „kurdischen Frage“ positionieren.
Die Forderungen, das „Problem“ der Kurd:innen als Nation nicht zu sehen kann nur Ergebnis einer „bewussten“ Ignoranz sein. Jene Ignoranz ist aber auch eine Politik, die opportunistisch und sozialchauvinistisch geprägt ist.
Im Folgenden skizzieren wir die kurdische Frage in ihren strukturellen Zügen und stellen die beiden grundlegenden Lösungswege, die werktätige und revolutionäre Lösung und die bürgerliche Lösung in ihren konkreten Erscheinungen vor.
a) Kurdistan: In Vier geteilt und kolonisiert
Hensgen fragt, was Kurdistan zu einer Kolonie, den türkischen Staat zu einem kolonialistischen Staat macht. Diese Frage werden wir im Folgenden in groben Zügen erläutern.
Kolonialismus bedeutet politische und ökonomische Annexion. Kurdistan wurde vom türkischen, syrischen, irakischen und dem iranischen Staat erst einmal politisch, danach ökonomisch besetzt, ausgebeutet, kolonialisiert.
Kurdistan vor dem ersten Weltkrieg
In Medien ist das kurdische Volk auf die Bühne der Geschichte der Gesellschaften getreten. Geteilt vom persischen und römischen Reich wurde das Gebiet von beiden Kräften in Folge eines Abkommens dem armenischen Königreich übergeben. Der herrschenden historischen Meinung nach haben sich die Kurd:innen in dieser Zeit in die Berge zurückgezogen und die „innere Verbindung“ hat sich gelockert. Im Folgenden wurden zwei zentrale kurdische Staaten gegründet, das der Marwaniden und das der Ayyubiden.
Obwohl es noch weitere kurdische Dynastien gab (Annaziden, Hassanwayhiden, Hazaraspiden, …), konnten sich diese beiden Staaten als „großkurdische“ etablieren. Seitdem haben die Kurd:innen ohne zentralen Staat und in Fürstentürmern (Beyliks) gelebt.
Kolonialismus ist nicht nur eine Kategorie des Kapitalismus. Auch im Feudalismus gab es Kolonialismus. Anders als im Kapitalismus setzt feudalistischer Kolonialismus keine ökonomische Überlegenheit/Hegemonie voraus. Territoriale Übernahme konnte zur Kolonialisierung reichen.
Im Osmanischen Reich war das Land der Kurd:innen in kurdische feudale Kleinstaaten (Beyliks) geteilt.
Angefangen von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1830) wurde die Autonomie dieser Kleinstaaten Schritt für Schritt aufgehoben. Auch zu dieser Zeit wurden viele kurdische Aufstände niedergeschlagen. Der größte und umfassendste dieser Aufstände war der unter der Führung von Ubeydullah, der zwar sowohl objektiv als auch subjektiv (politisch-ideologisch) feudalistisch und islamisch motiviert war, unter den Umständen des neu geborenen Kapitalismus aber das nationale Bewusstsein der Kurd:innen bestimmt hat.
Abdulhamit II. organisierte die Hamidiye-Brigaden, in der er auch die Kurd:innen integrierte. In einer politisch-ideologischen Instrumentalisierung des Islam wurde so die kurdische Beteiligung in der Mobilisierung gegen Armenier:innen und Assyrer:innen geschaffen.
Während die kurdischen Fürsten noch auf einer feudalistischen Autonomie beharrten, organisierten sich die kurdischen Intellektuellen und Halbintellektuellen in der spät-osmanischen und jung-türkischen Ittihat und Teraki (IT).
Die Konkurrenz zwischen den Armenier:innen und Kurd:innen um die „6 Städte im Osten“ (Westarmenien, Nordkurdistan) war ein weiterer Faktor, der ein vom Osmanischen Reich unabhängiges nationales Bewusstsein schwächte. Trotzdem gab es zwischen dem zentralen Osmanischen Reich und den kurdischen Fürstentümern immer wieder Konflikte wegen hohen Steuern oder Unterdrückung (z.B. 1905 in Dersim, Bitlis und Beyazit, 1906 in Erzurum, Bitlis und Diyarbakir). Mit der jungtürkischen Revolution 1908 gewann das kurdische Nationalbewusstsein neue Qualitäten. Es wurden kurdische Vereine und Organisationen gegründet, kurdische Zeitschriften veröffentlicht.
IT, der in den Balkankriegen die Rolle der nationalen Fragen zu spüren bekam, zog nunmehr den Turanismus und Türkismus vor und setzte sich die „Homogenisierung“ Anatoliens als Strategie. Angefangen von den nicht-muslimischen Nationen (allen voran den Armenier:innen und Assyrer:innen) begann in Anatolien eine Zeit des Genozids, der Vertreibung und Assimilation.
Die In-Vier-Teilung Kurdistans
Zeitgleich zog die ganze Welt in den ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich, das selbst geschwächt von „innerer Zerstrittenheit“, einer politischen Hegemoniekrise war, positionierte sich neben dem deutschen Reich.
Bevor der Krieg vorbei war, haben die Imperialisten die „Überreste“ des Osmanischen Reichs untereinander aufgeteilt. Demnach sollte Mosul England, Südwestkurdistan Frankreich, der Süden von Wan und Bitlis Russland bleiben. Das Ende des Krieges, aber vor allem die Oktoberrevolution sollte diese Pläne aber für nichtig erklären (siehe das Abkommen von Skyes-Picot).
Ohne Zweifel hatte die Besetzung Kurdistans nicht nur strategisch-militärische Bedeutung, sondern auch im Hinblick auf die Macht über Rohstoffe wie zum Beispiel Erdöl. Der britische Imperialismus hat 1918 verschiedene Wege eingeschlagen, um Kurdistan zu kontrollieren. England versuchte, die feudalistische Zerstückeltheit der Kurd:innen zum eigenen Vorteil hin „aufzuheben“ und zeigte sich als Befürworter eines autonomen Kurdistans. Im Moudros-Abkommen gewann England auch das „Recht“, in Kurdistan „im Ganzen“ einzugreifen (siehe Art. 7 und 16).
Infolge dessen besetzten die Brit:innen Mosul und Kerkuk. In dieser Zeit finden sich verschiedene kurdische Führer, die für ein „vereintes und unabhängiges Kurdistan“ kämpften und dabei auch durchaus mit dem britischen Imperialismus kollaboriert haben. Südkurdistan war zu der Zeit aber auch Zentrum des nationalen Aufstands und Bewusstseins. Mahmud Barzanci, eine Zeit lang Partner des britischen Imperialismus, löste sich immer mehr von ihm.
Zeitgleich war in Russland die Oktoberrevolution ausgebrochen und die Sowjetunion wurde ausgerufen. Dort wurde die nationale Frage in Form einer Föderation, die auf freiwilliger Einheit beruht, gelöst. Das führte zu Sympathien auch unter den Kurd:innen.
Mahmud Barzanci schrieb an den Vertreter der SU in Tabriz folgendes: „Das gesamte kurdische Volk erkennt die Russen als Befreier des Ostens an und sind bereit, ihr Schicksal mit ihnen zu vereinen.“ Barzanci forderte diplomatische Anerkennung, Waffen und Munition.
Zwei weitere Führer der kurdischen Nation, Seyiz Taha und Ismail Aga Simko (Mahabat) hatten auch ähnliche Beziehungen zum britischen Imperialismus. Obwohl beide zeitweise kollaborierten, bestanden beide auf ein „vereintes Kurdistan“. An dieser Stelle ist der feudale Charakter der nationalen Führung nicht maßgeblich, da die Bewegung konkret 1) das nationale Bewusstsein stärkt und die nationale Befreiung erzielt, 2) den Imperialismus und die imperialistische Besatzung schwächt und 3) politische Freiheit für die kurdische Nation verspricht.
Auf den „Friedenskonferenzen“ wurde die Verteilungsfrage wieder in die Hand genommen. In Paris (Juni 1919-Februar 1920) hatte sich die In-Vier-Teilung Kurdistans schon herauskristallisiert.
Das Abkommen von Sevre (August 1920) sah die Leitung des Mittleren Ostens von einer Kommission aus Istanbul, die Autonomie für die Kurd:innen (Art. 62) und eine mögliche Unabhängigkeit, „wenn das kurdische Volk beweist, dass sie ihre Unabhängigkeit begründen kann.“ (Art. 64) vor. Dieses Abkommen sollte aber von den realen Entwicklungen für nichtig erklärt werden – nur drei Jahre nach der Verabschiedung.
Das Osmanische Reich und die kemalistische Bewegung versuchten, die Kurd:innen auf ihre Seite zu ziehen und sagten ihnen sogar Autonomie zu. Während M. Kemal und die türkische nationale Befreiungsbewegung die Kurd:innen einerseits auf anti-kolonialer (gegen die imperialistischen Besatzer) und anti-christlicher (vor allem gegen die Armenier:innen) Ebene als „gleichberechtigtes Volk der neuen Türkei“ propagierten, versuchten sie andererseits jegliche kurdische nationale Forderung im Keim zu ersticken.
In Nordkurdistan hat die moderne kurdische nationale Bündelung ihren Ursprung 1920, als die echten Pläne der jungtürkischen Bewegung in Vorschein getreten sind. Der kurdische Milli-Stamm rief alle Stämme in Kurdistan dazu auf, sich dem nationalen Aufstand anzuschließen. Gleichzeitig trat Halid Beg, der auch Kommandant der Hamidiye-Brigaden war, mit der Forderung eines unabhängigen Kurdistans auf die Bühne. Während die Aufstände unterdrückt wurden, hat M. Kemal einige Vertreter:innen dieser Stämme in den Staatsapparat integriert.
Der wichtigste nationale Aufstand dieser Jahre war der in Koçgiri (1920). Die Menschen forderten den nationalen Status, so wie es ihnen auch zugesprochen wurde – sowohl von den Imperialisten als auch von der türkischen nationalen Befreiungsbewegung. Der Aufstand, dessen Zentren Sivas (Koçgiri) und Dersim waren, forderten den nationalen Status für Kurdistan, die Freiheit der kurdischen Gefangenen in Elazig, Malatya, Sivas und Erzincan und den Rückzug der Truppen der kemalistischen Armee. Der Aufstand wurde mit genozidalen Methoden unterdrückt, Hunderte festgenommen, insgesamt 117 Kurd:innen zum Tode verurteilt. Nach der brutalen Niederschlagung des Aufstands sollte die kurdische nationale Befreiungsbewegung (mit einigen „kleinen“ Ausnahmen) bis 1925 „ruhen“.1922 besiegte die türkische nationale Befreiungsbewegung die imperialistische Besatzung und am 20. November 1922 begannen die Gespräche von Lausanne. Und mit Lausanne lösten sich alle Versprechen an die Kurd:innen in der Luft auf. Das Abkommen von Lausanne teilte Kurdistan endgültig in Vier.
Die Gründung der Republik und die Kolonisierung Kurdistans
Mit der Gründung der Republik war ein türkischer Nationalstaat auf einem multinationalen Territorium geschaffen.
Kurdistan wurde vom türkischen Staat erst politisch annektiert. Diese Annexion begann mit der Gründung der Republik, dem endgültigen Sieg der türkischen Befreiungsbewegung und deren Kollaboration mit dem Imperialismus auf Grundlage der Teilung Kurdistans, des Verbots der kurdischen Sprache 1924 und wurde 1938 mit dem größten Genozid in Nordkurdistan vervollständigt.
Die kemalistische Türkei beanspruchte eigentlich auch Südkurdistan (vor allem Mosul) für sich, da dort Kurd:innen und Turkmen:innen gemeinsam lebten.
Indem sich die türkische Nation als „Eigentümer“ des Staates manifestiert und die kurdische Nation verleugnet, die politischen Aufstände mit nationalem Charakter von Şeyh Said (1925), Agiri (1929) und Dersim (1938) unterdrückt wurden, war Kurdistan vollständig politisch annektiert und „gehörte“ fortan den Türk:innen.
Die türkische Bourgeoisie begann in den 1930ern damit, die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Nordkurdistan auszunutzen, konnte die wirtschaftliche Annexion aber erst in den 1950ern vervollständigen. Grund dafür war die finanzielle Schwäche und fehlendes technisches Know-How. Die USA als maßgebliche imperialistische Kraft verstärkte in dieser Zeit ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei und unterstützte sie bei der wirtschaftlichen Annexion Kurdistans, um sie im Krieg gegen die SU neben sich zu halten. Die Plünderung der Agrarwirtschaft, Minen und Energierohstoffe, die Zerstörung der feudalen wirtschaftlichen Einheit in Nordkurdistan, der Sturz des kurdischen Handwerks wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit mit den Produkten des kolonialistischen Landes und die Bindung des Marktes in Nordkurdistan an den der Türkei vervollständigten die wirtschaftliche Annexion.
Seitdem ist Kurdistan der unbegrenzten Ausbeutung türkischer Monopole (später auch der internationalen Monopole) geöffnet.
Auch heute kann nicht von einer kurdischen großen Bourgeoisie oder kurdischem Kapital in Nordkurdistan gesprochen werden. Obwohl es mittelgroße kurdische Kapitalisten gab, konnten diese nur dann leben, wenn sie ihre nationale Identität leugneten und weiterhin leugnen. Die große Welle der Ermordungen kurdischer Unternehmer in den 90ern ist nur ein Beispiel dafür.
Da wir uns gerade nur auf Nordkurdistan beziehen, werden wir im Folgenden nicht auf die historische Entwicklung der anderen drei Teile Kurdistans eingehen. Wichtig ist, dass die Kurd:innen in allen vier Teilen nicht aufgehört haben, zu existieren, immer wieder ihre Forderung nach nationalem Status aufgestellt und dafür gekämpft haben.
Der national-demokratische Aufstieg der kurdischen Befreiungsbewegung in Südkurdistan, die Ausrufung der Mahabad-Republik in Ostkurdistan, die SU als Beispiel der Lösung von nationalen Fragen und die national-demokratischen Revolutionen in den Neokolonien ebneten den Weg für einen „Neuanfang“ für die kurdische Befreiungsbewegung.
Kann eine Neokolonie kolonialistisch sein? Grundsätzlich sind im Zeitalter des monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus) die imperialistischen Staaten Träger des „Kolonialismus“. Denn sie sind die Subjekte der „Aufteilung“ der Welt für die Interessen ihrer Monopole. Trotzdem muss jede Situation unter den bestimmten Umständen analysiert und bewertet werden. Die Türkei ist kein imperialistischer Staat, sondern selbst abhängig vom Imperialismus. Erst hat die Republik den halb-kolonialen Charakter des Osmanischen Reichs übernommen, hat sich mit der Entwicklung einer „eigenen“ türkischen Bourgeoisie aber schnell zu einer Neokolonie entwickelt. Die Kolonialisierung Kurdistans hat sich nur unter bestimmten historischen Umständen als Ausnahme realisieren können: 1.) Der Sieg der türkischen Befreiungsbewegung und die Niederlage der imperialistischen Besatzer führte zur Nichtigerklärung des imperialistischen Plans für den Mittleren Osten (das Abkommen von Sevre), die auch den nationalen Status („auf der Stelle Autonomie oder Unabhängig nach einem Jahr, wenn gewollt“) für Nordkurdistan vorsah. 2.) Die Konkurrenz unter den Imperialisten (Briten und Franzosen) und die unerwartete Oktoberrevolution (die SU), die die Pläne der Imperialisten durchkreuzte, haben der kemalistischen Führung mehr Handlungsspielraum geschaffen. 3.) Das noch niedrige nationale Bewusstsein, die feudalistische Zerstückeltheit und der daraus resultierende Mangel an nationaler Einheit und deren Organisierung, Verrat und Kollaboration mit den Imperialisten, dann leichtsinniger Glaube an die Versprechen M. Kemals nach einem „türkisch-kurdischen Staat“, anti-christliche, anti-armenische und islamische ideologische Verankerung in der Bevölkerung haben die politische Annexion vereinfacht. Diese drei Seiten der gesellschaftlich-politischen Bedingungen der Lage haben dazu geführt, dass ein nicht-imperialistischer Staat auch im Zeitalter des Imperialismus selbst Kolonialist werden konnte.
Die 1968’er Jugendbewegung führte in der Türkei zu einer neuen revolutionären Bewegung, die mit der Tradition der sozialchauvinistischen und reformistischen Linken brach. Ibrahim Kaypakkayas Charakterisierung des Kemalismus als Faschismus und der kurdischen Nation als „kolonialisiert“, die Anerkennung des kurdischen Volkes und der antichauvinistische politische Standpunkt von Deniz Gezmiş (trotz einiger sozialchauvinistischer Schwächen) und die Errungenschaften und Erfahrungen des bewaffneten Kampfes, geführt von Mahir Çayan haben die nötige Grundlage geschaffen für die „Neugeburt“ des kurdischen Nationalbewusstseins in Nordkurdistan – so wie die kurdische Befreiungsbewegung die Gründung der PKK charakterisiert.
Die Gründung und Entwicklung der PKK in Nordkurdistan, vor allem ihr taktischer Rückzug zur Zeit des militärischen faschistischen Putsches vom 12. September und die Aufnahme des bewaffneten Guerilla-Krieges 1984, die Entwicklung der kurdischen Massenbewegung in Nordkurdistan am Anfang der 90er Jahre führte zum strukturellen Bruch des kurdischen Volkes vom türkischen Staat und die schließliche Entwicklung des Nationalbewusstseins.
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Heute ist Kurdistan weiterhin in Vier geteilt, zwei Teile (der Norden von der Türkei und der Osten vom Iran) sind kolonialistisch besetzt.
Südkurdistan hat durch einen langjährigen nationalen Widerstand und die Füllung der Hegemonielöcher in Kriegszeiten eine politische Autonomie – aber de facto ein föderatives System gewonnen. Unter der Führung der kurdischen Bourgeoisie mit imperialistischem Einverständnis ist das Autonome Kurdistan entstanden.
In Westkurdistan hat die kurdische nationale Befreiungsbewegung mit einer revolutionären Vorbereitung die Hegemonielöcher zur Zeit des reaktionären Bürgerkriegs in Syrien gefüllt und sowohl das kolonialistische Baath-Regime, als auch die reaktionären politisch-islamischen Kräfte der Region besiegt.
b) Die kurdische Freiheitsbewegung, Rojava und der türkische Staat im imperialistischen Weltsystem
Vertreter:innen des „imperialistischen Ökonomismus“ argumentieren, ausgehend vom Ölabkommen und der militärisch-taktischen Beziehung der SDF mit den USA, einigen Aussagen der Führer:innen der kurdischen Befreiungsbewegung, die kurdische Freiheitsbewegung sei als „pro-imperialistisch“ einzustufen.
Aber weil Hensgen und andere Vertreter des imperialistischen Ökonomismus und Sozialchauvinismus die Nachrichten und Entwicklungen herauspicken, die ihnen passen, verlieren sie die Realität aus den Augen.
Dass der „demokratische Kommunalismus“ und die Art des gesellschaftlichen Lebens, den er vorsieht, „auf Klassenversöhnung beruht“ [1], stimmt. Die Analyse der Theorie Abdullah Öcalans wurde ausführlich von den Organisationen gemacht, die von Hensgen als „analysefaul“ charakterisiert wurden:
„Schon nach dem Zusammenbruch des revisionistischen Sowjetblocks hat die PKK Diskussionen zu ihrer Linie geführt. Die Strategie der „radikalen Demokratie“ und des demokratischen Kommunalismus entwickelt Öcalan in Haft, nachdem er in Folge eines internationalen Komplotts 1999 festgenommen wurde. Diese theoretische Losung war im Grunde genommen ein ideologischer Rückzug in einer Zeit, in der sich die kurdische Befreiungsbewegung in einer politischen, ideologischen und organisatorischen Krise befand. Dies alles führt uns zu dem Ergebnis, dass die kurdische nationale Freiheitsbewegung theoretisch kleinbürgerlich national-reformistischen Charakter hat […] Aber es muss noch einmal herausgestellt werden, dass der theoretische Reformismus des „demokratischen Kommunalismus“ die Hand der kurdischen Bourgeoise und der kolonialistischen Staaten stärkt und den Gegenwillen der Arbeiterklasse und Unterdrückten schwächt.“ [2]
Warum das so ist, kann in der Broschüre nachgelesen werden. Diese Schwäche bedeutet eben auch das Potenzial der Klassenversöhnung und mit ihr die der imperialistischen Zusammenarbeit.
Trotzdem muss eine Bewegung aus der objektiven Realität heraus betrachtet und analysiert werden. Genauso wie es Hensgen im Hinblick auf die Hamas tut, wenn sie sagt, dass das Gesagte (die Gründungscharta) ohnehin „keine Bedeutung“ hat.
So kann genauso auch gegensätzlich argumentiert werden, dass sich die PKK selbst als „antiimperialistisch“ definiert. An mindestens genauso vielen Stellen wie von Hensgen angeführt, kann aufgezeigt werden, wie die Führer:innen der kurdischen Freiheitsbewegung die USA und die EU als Komplizen des türkischen Regimes offenlegen und zum Kampf gegen ihn aufrufen. Allen voran wurde der internationale Komplott gegen den Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan von der USA „regiert“.[3] Die PYD (Partei der demokratischen Einheit) in Nordsyrien erklärt: „Die USA, Russland und einige internationale Staaten sind für das, was die Syrer:innen erleben mussten, verantwortlich.“ [4]
In einem Interview positioniert sich die Führung der KCK klar:
„Wird sie dennoch mit dem Segen der NATO von der Türkei angegriffen, bedeutet das, dass das Bündnis nicht an der Seite demokratischer und freiheitlicher Kräfte steht, sondern im Einvernehmen mit faschistischen Akteuren in der Region steht. Der wichtigste Partner von Organisationen wie dem IS oder Al-Qaida im Mittleren Osten ist der türkische Staat. Zerfällt der türkische Staat oder wird er demokratisiert, wird es im Mittleren Osten auch den IS oder die Al-Qaida nicht mehr geben. Auch deren Ableger wie etwa Al-Nusra und etliche andere werden dann innerhalb kürzester Zeit aufgeben. In diesem Sinne ist unser Kampf auch der Kampf aller demokratischen Kräfte gegen die NATO, die aktiv faschistische Kräfte unterstützt […] Zusammengefasst: Es ist offensichtlich, dass die NATO eine Institution ist, die keinerlei Legitimität hat und im Interesse des Kapitalismus in andere Länder interveniert. Sie ist ein Relikt des Kalten Krieges, das abgeschafft gehört.“ [5]
Es gibt auch ein grundlegendes Verständnis davon, was die USA in Syrien will und was dafür im Hinblick auf die Kurd:innenpolitik nötig ist:
„Die NATO und die USA unterstützen die Besatzungsangriffe des türkischen Staats und des AKP/MHP-Faschismus auf Rojava und Südkurdistan. Das ist Teil ihrer Strategie in der Region […] Die USA und die NATO lehnen also die kolonialistische Herrschaft des türkischen Staates und den Völkermord in Kurdistan nicht ab. Ganz im Gegenteil, sie begreifen sie als essenziell und unterstützen sie.“ [6]
Nachdem D. Kalkan erklärt, dass die imperialistischen Kräfte die Lösung der kurdischen Frage sogar verhindern, stellt er fest:
„Was also wünschen sie sich von der KCK? Dass sie genauso wie die PDK wird. Sie sind eindeutig gegen die KCK. Deshalb unterstützen sie die Vernichtungsangriffe des türkischen Staates auf die PKK und KCK vollständig. Während der türkische Staat mit diesen Angriffen auf die komplette Zerstörung der PKK und KCK abzielt, wollen Kräfte wie die USA und die NATO nicht deren vollständige Vernichtung, sondern dass sie wie die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) werden.“ [7]
Hensgen führt richtigerweise an: „Wenn ein Staat den USA oder der EU im Weg steht, versuchen sie, innerhalb dieses Staates Spaltungslinien zu finden, die es möglich machen, ihn von innen zu sprengen.“ [8] Das gilt natürlich nicht nur für die USA und die EU, sondern für alle imperialistischen Staaten. Nur muss Hensgen und mit ihm alle „imperialistischen Ökonomisten“ verstehen, dass diese Spaltungslinien nicht geschaffen, sondern real, widersprüchlich sind und gelöst werden müssen. Die kurdische Frage ist älter als der Imperialismus als monopolistischer Kapitalismus und kann nicht vom Interesse des US-Imperialismus abhängig gemacht werden. Weiter oben hatten wir versucht, die Frage in ihren groben Zügen historisch zu skizzieren. Sei es drum; V.I. Lenin entgegnete dieser Argumentation:
„Die Tatsache, daß der Kampf gegen eine imperialistische Regierung für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer andern „Großmacht“ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie ebenso wenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, wie die mehrfachen Fälle der Ausnutzung der republikanischen Losungen durch die Bourgeoisie in ihrer politischen Betrügerei und Finanzräuberei zum Beispiel in romanischen Ländern die Sozialdemokratie auf ihren Republikanismus zu verzichten bewegen können.“ [9]
Also kann die prinzipiell interessensbezogene und kolonialisierende Haltung der Imperialisten nicht zu einem ideologischen Angriffsargument gegen die national-demokratische Bewegung gemacht werden. Die Bewegung sollte allenfalls revolutionär gewarnt werden!
Die angeführten Zitate Hensgens zur ideologischen Charakterisierung der PKK als „proimperialistisch“ sind echt, nur nicht repräsentativ. Wir würden Hensgen zustimmen, wenn er sagen würde, dass die kurdische Befreiungsbewegung widersprüchliche Aussagen macht und die Linie zum Imperialismus nicht deutlich wird; denn das stimmt! Dies findet seine soziale Basis aber eben im kurdischen Kleinbürgertum, deren direkter Vertreter die PKK ist. Die ideologische Linie des Apoismus und die revolutionäre alltägliche Politik/Linie der kurdischen Freiheitsbewegung stehen in einem logischen Widerspruch zueinander; mehr noch: während die Theorie des „demokratischen Kommunalismus“ reformistisch ist, ist die Bewegung, die diese erkämpft, revolutionär.
„Jenseits von Staat, Gewalt und Macht“ ist ein wichtiges Buch, in dem die neue ideologische Linie Abdullah Öcalans zusammengefasst nachgelesen werden kann, sie ist aber nicht die bindende Bibel der kurdischen Befreiungsbewegung, Vielmehr ist auszugehen von der theoretisch-praktischen Gesamtheit. Marxist:innen suchen nach der „vollständigen“ / „gänzlichen“ Realität. Nicht die Realität muss der Theorie, den Argumenten abgepasst werden, sondern die Theorie muss die Realität erfassen, um sie verändern zu können.
Die PKK wird vom US-Imperialismus und der EU bekämpft, die Türkei wird in ihrem Krieg gegen die Guerilla und die legale kurdische Politik vollständig auf allen Ebenen (politisch, diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch) unterstützt und mitgetragen.
Die USA eröffnet nicht nur den Luftraum für die türkische Luftwaffe, sondern kriminalisiert die PKK international, führt informell-nachrichtendienstlichen Krieg gegen sie, „drückt“ die Augen zu, während die Türkei Giftgas gegen die Guerilla einsetzt, stärkt und leitet die PDK zur Einkreisung und Schwächung der PKK, rüstet die Türkei im Rahmen der NATO auf. Symbolpolitisch hat die USA auf die drei führenden Kader der PKK Millionen Dollar-hohe Kopfgelder gesetzt.[10] In Deutschland sind die politischen Freiheiten der Kurd:innen begrenzt, ihre Fahnen verboten, Mitgliedschaft und Aktivismus in der kurdischen Freiheitsbewegung wird mit Haft bestraft.[11]
Unter solchen Bedingungen, die von jede:m ohne große Analyse erkannt werden können, werden wir die Diskussion um die NATO-Nähe der PKK nicht weiter ausführen. Nicht aus „Analysefaulheit“, sondern weil hier die Analyse nichts anderes als Zeitverschwendung ist.
Interessanter und „analysebedürftiger“ wird es in Syrien. Davor müssen wir aber die Diskussion zur Türkei und Nordkurdistan zu Ende führen.
Wir stimmen mit Hensgen und den Vertreter:innen des „imperialistischen Ökonomismus“ (allen voran der TKP) überein, wenn es um die Charakterisierung der Türkei als eine von der USA abhängige Neokolonie geht. „Als NATO-Mitglied hat die Türkei ihr Militär dem Befehl der NATO unterstellt. Hohe türkische Offiziere wurden damit dem Befehl niedrigerer amerikanischer Offiziere unterstellt. Das türkische Militär wurde damit beinahe gänzlich an die Vereinigten Staaten und die NATO gebunden und von diesen abhängig gemacht.“ [12]
Und diese Armee führt Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung in Südkurdistan unter den kontrollierenden und leitenden Blicken des US-Imperialismus. Obwohl wir nicht so weit gehen würden wie die TKP und der türkischen Bourgeoisie und seinem Staat eine relative politische Autonomie „zugestehen“ würden, ändert das nichts an der Realität, dass die PKK, die, egal was hier oder dort geschrieben wurde, für die Zerstörung des türkischen Faschismus, Stützpunkt der NATO im Mittleren Osten, kämpft, ja sogar Krieg führt.
Neben weiteren Verbündeten im Mittleren Osten sind Israel und die Türkei die beiden strategischen Hauptverbündeten des US-Imperialismus. Beide sind für den US-Imperialismus im Hegemoniekampf gegen den Iran und Russland-China existenziell. Indem die PKK, die Guerilla und die demokratische Volksbewegung in der Türkei/Nordkurdistan Krieg gegen die Türkei führen, schwächen sie „objektiv“ den Imperialismus. Einen anderen Anhaltspunkt gibt es nicht als die verschwörungstheoretische Wahnvorstellung, „äußere Kräfte wollen die Türkei spalten“. Hensgen kann und wird keine objektiven und materiellen Belege für jegliches Verhältnis der PKK mit Imperialisten liefern können und muss die PKK objektiv als eine den Imperialismus „schwächende“ Bewegung einschätzen. Ähnliches gilt (mit einigen Modifikationen) auch für Süd- und Ostkurdistan.
Nun kommen wir zu Rojava/Nordsyrien.
Ausgehend von einem Zitat aus einem Interview versucht Hensgen aufzuzeigen, dass die PYD gegen ein „friedliches Zusammenleben aller Völker“ (Hensgen) ist. In dem Zitat diskutiert Salih Müslüm die bewusste Umsiedlung und Ausnutzung arabischer Menschen gegen den kurdischen Status und sagt, dass eine Umsiedlung in Frage kommt, wenn die gesellschaftlichen Widersprüche nicht mehr tragbar und leitbar werden.[13]
Hieraus eine Feindschaft gegenüber den arabischen Siedler:innen in der Region zu lesen, kann nur Folge einer subjektiven vorurteilhaften Verfälschung sein.
Die Kurd:innen in Rojava haben die nationale Freiheit gewonnen, haben aber auch die anderen vom IS besetzten Regionen befreit, haben diese Regionen den arabischen Völkern auf Grundlage der Selbstverwaltung übergeben. Ein (mit-)bestimmender Teil der Selbstverteidigungskräfte (SDF), der mehr als 100.000 Mitglieder hat, ist arabisch. Die Menschen in den befreiten Gebieten bevorzugen es, in der Föderation Nordsyrien zu leben, als zu den Regime-Verhältnissen zurückzukehren. So wurden in Städten wie Deir ez-Zor und Rakka Selbstverwaltungen geschaffen, die von den arabischen Kommunen geleitet und verwaltet werden, die somit auch Mitsprache im Gesellschaftsrat (TEV-DEM) haben.
Die kurdische Befreiungsbewegung setzt sich in Syrien auch keine separatistischen Ziele. Im Gegensatz zum Regime, das die kurdischen nationalen Rechte weiterhin verleugnet, möchte die PYD eine Demokratisierung Syriens auf Basis einer kurdisch-arabischen Einheit, fordert die Anerkennung des nationalen Status für Rojava und der demokratischen Errungenschaften der Region.
Rojava-Nordsyrien ist seitdem das einzige Gebiet im Mittleren Osten, in dem der Staat (die Autonomieleitung von der Föderation Nordsyrien) keine gesellschaftliche Widersprüche vertiefende und polarisierende Funktion einnimmt, sich ausdrücklich nicht als ein Staat einer bestimmten Nation positioniert und alle Völker und Minderheiten mit Quoten in ihren demokratischen Rechten absichert. Das gilt im Hinblick auf die Araber:innen genauso wie für die Assyrer:innen, Armenier:innen, Turkmen:innen, sowie alle religiösen Minderheiten.
Die Arbeiter:innenklasse hat – trotz ihrer quantitativen und qualitativen Schwäche in der Region – ihre politischen Freiheiten (vor allem ihr Recht auf Organisierung, Gründung und Kampf innerhalb von Gewerkschaften, Recht auf Streik und Versammlung etc.) gewonnen und sie sind gesichert.
Die Frauen wurden gesetzlich gleichgestellt, die politische Struktur ist geschlechtergleich aufgebaut, alle Hindernisse, die der politischen Befreiung der Frau im Weg stehen, wurden aufgehoben, die Frauenarmee als Selbstverteidigung des unterdrückten Geschlechts ist ein erstes Beispiel in dieser Dimension.
Zusammenfassend: Mit der Revolution vom 19. Juli hat die kurdische Nation die nationale Unterdrückung durch das BAATH-Regime beendet und die nationale Freiheit gewonnen, mit ihr auch die undemokratischen, despotischen Verhältnisse der Bashar Al-Assad-Diktatur aufgehoben und an deren Stelle ein demokratisches Regime aufgebaut, das auf Selbstverwaltung beruht. Sie hat die demokratische Freiheiten der in Rojava-Nordsyrien lebenden Büger:innen gesichert und hat während ihrer Entwicklung den IS besiegt, die kurdisch-arabische Einheit „von unten“ aufgebaut.
Hensgen findet die Lösung, auf die offensichtlich niemand in der Region gekommen ist. Die PYD hätte „2014 mit Bashar Al-Assad verhandeln können, um mit ihm den Kampf gegen den IS zu koordinieren.“ [14] Hensgen möchte verdeutlichen, dass „eine Kooperation mit dem syrischen Präsidenten kein absolutes No-Go aus Sicht der PKK“ sein müsste – außer die PKK ist „pro-imperialistisch“ und „NATO-nah“.
Hensgen versteht nicht oder verschließt seine Augen vor der einfachen Realität, dass diese Zusammenarbeit nicht aus der Sicht der PKK oder der PYD in Rojava ein „No-Go“ war, sondern von Anfang an aus der Sicht des syrischen Regimes. Ganz im Gegenteil versichert die PYD, dass sie die syrische staatliche Integrität wahren, mit dem syrischen Regime verhandeln und eine „Lösung auf Grundlage eines gesamtsyrischen Veränderungsprozesses“ finden wollen. In der Hinsicht gab es Verhandlungen seit 2014, die sich seit 2018 intensiviert haben. Nur erkennt das syrische Regime die beiden Hauptforderungen, die Demokratisierung Syriens (in Form einer neuen Verfassung) und die Dezentralisierung der Herrschaft (und die Anerkennung der kurdischen Autonomie) in keinster Weise an. Unter russischer Beobachtung setzt sich das Assad-Regime die Liquidierung jeglicher national-demokratischer Errungenschaften und die Rückkehr zu den Verhältnissen vor 2011 zum Ziel.
An dieser Stelle ist es auch hilfreich, sich zu erinnern, dass die Kurd:innen nicht nur militärisch-taktische Beziehungen zur USA und ihrer internationalen Koalition, sondern auch zu Russland hatten und weiterhin haben. Letztendlich waren die Partner der PYD westlich vom Euphrat (Efrin etc.) die Russen. Diese haben dem Angriffskrieg gegen Rojava grünes Licht gegeben, um die Türkei zu beschwichtigen, Vorteile in Idlib zu gewinnen, den politischen Widerspruch zwischen der Türkei und der USA auszuweiten und die Kurd:innen auf die Knie zu zwingen, damit sie sich dem syrischen Modell unterordnen. Für ihren gesamt-syrischen Plan haben die Russen zugelassen, dass die Türkei Teile von Rojava-Syrien (Efrin etc.) besetzt und tausende Kurd:innen massakriert wurden oder zur Flucht zwingt.
Zu dem Verhältnis zwischen der Föderation Rojava-Nordsyrien und dem Regime kommen wir später noch einmal zurück.
Es wird Zeit, die Sache mit dem Öl anzusprechen. Niemand bestreitet, dass die USA die Öl-Felder als strategische wirtschaftliche Quellen umkämpft. Das bedeutet auch langfristig den Aufbau politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse, am besten in Form einer finanz-ökonomischen Abhängigkeit aus Sicht der USA. Nur ist die Situation – die widersprüchliche Realität in Syrien nicht so einfach wie geschildert.
Vor allem möchten wir daran erinnern, dass Syrien, als kolonialistischer Staat, Westkurdistan politisch besetzt und wirtschaftlich abhängig gemacht hat. Das können wir vor allem an der ökonomischen Struktur Nord-Ostsyriens erkennen. In Nordsyrien gibt es keine Industrie. Obwohl die größten Ölfelder in Nord- und Ostsyrien sind, sind die Raffinerien in Zentralsyrien. Obwohl Nordsyrien Zentrum der Agrarproduktion ist, sind die Verarbeitungsfabriken in Zentralsyrien. Öl wird nach Syrien getragen, um es abzubauen, Weizen wird abgebaut, in Syrien verarbeitet und dann wird das Mehl auf dem Markt verkauft. Das ist erst die Grundlage für die Notwendigkeit ökonomischer Beziehungen zu „äußeren“ Kräften.
Abkommen mit US-amerikanischen Unternehmen wurden erst auf Grundlage des militärischen Bündnisses gegen den IS beschlossen und waren „begrenzt“ auf die Unterstützung der Föderation bei der Produktion und dem Schutz des „Öl“s. Die Gebiete der Ölfelder sind weiterhin im Visier des IS und werden von Zeit zu Zeit auch Ziel von Angriffen von „schlafenden Zellen“.
Der Caeser-Act der USA und westlichen Imperialisten gegen Syrien verbietet ökonomische Investitionen und Handel in Syrien. Auch Rojava-Nordsyrien ist nicht ausgenommen von diesem Embargo. Das Ölabkommen mit Delta Energy war eine Ausnahme, die aber auch schon abgelaufen ist! Biden hat das Abkommen nicht erneuern lassen. Das heißt; aktuell gibt es gar kein aktuelles Öl-Abkommen mehr.[15] Wenn das Abkommen mit der US-amerikanischen Delta Crescent Energy LLC mit der Föderation Argument für die politisch-strategische Einheit, mehr noch Abhängigkeit sein kann, muss die „Aufgabe des Abkommens“ als Gegenargument anerkannt werden.
Es gibt in der Region auch keine weiteren Anzeichen von strategischen US-amerikanischen ökonomischen Investitionen oder Handel.[16]
Auch zur Zeit des Besatzungskriegs gegen Serekaniye/Rojava hat die USA ohne Weiteres den Luftraum nicht verschlossen und zugelassen, dass die Türkei weitere Teile Rojavas besetzt.
Hensgen und die Leser:innen werden gemerkt haben, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was gewollt (erzielt) wird und dem, was ist. Natürlich will die USA auch politische Beziehungen aufbauen (und vielleicht wäre die revolutionäre Autonomieverwaltung auch bereit dazu), tut dies aber bewusst nicht, weil sie noch nicht auf einer „kontrollierbaren“ Linie (KDP, in Rojava ENKS) ist. Dass politische Gespräche geführt, diplomatische Beziehungen und Verbindungen aufgebaut werden macht eine Beziehung aber noch nicht politisch.
Letztes Jahr hat die USA und Frankreich die beiden politischen Kräfte PYD und ENKS für ein Dialog zusammengebracht. Die PYD besteht schon länger auf der Strategie der nationalen Einheit, die die innere Zerstrittenheit im Nachteil des türkischen Regimes verringern würde. Anders als die PYD ist die ENKS die politische Vertretung der kurdischen Bourgeoisie, die in direkter, auch politischer, Beziehung zur USA und anderen imperialistischen Kräften steht. Deswegen war es auch für die ENKS auch nicht problematisch, Fuß zu fassen in den von der Türkei besetzten Gebieten, dort im Schatten der türkischen und politisch-islamischen Soldaten „frei“ Politik zu machen, die Besatzung so zu legitimieren.
In der Hinsicht möchte die USA eine Südkurdistan-ähnliche Autonomie, in der es 1) eine gesellschaftliche Spaltung zwischen den Kurd:Innen und Araber:innen gibt und 2) die Errungenschaften der volksnahen und demokratischen Revolution, vor allem der kommunale Charakter der Volksverwaltung, liquidiert werden. Da die PYD dem nicht zustimmt und im Rahmen des Programms der Demokratisierung Syriens auf die kurdisch-arabische Einheit und die Kommunen als maßgebliche Instanz der politischen Führung setzt und sich nicht von der PKK und der Guerilla distanziert, kann sich die Beziehung auch nicht in eine politische und strategische Beziehung verwandeln.
In der nationalen Befreiungsbewegung und in der autonomen Verwaltung gibt es starke Stimmen, die eine solche Entwicklung befürworten und dies „mit dem Überleben“ legitimieren würden. Dies ist aber noch ein Prozess. Die volksnahe und demokratische Autonomieverwaltung sucht nach einer Lösung und die inneren Dynamiken sind bestimmend bei jener Suche.
Genau deswegen ist die Beziehung aktuell „aus Sicht beider Seiten“ militärisch und taktisch.
Es gibt zwei Voraussetzungen, die Maßstab der Bewertung einer nationalen Bewegung sind. 1) ob sie den Imperialismus objektiv schwächt und 2) ob sie den Arbeiter:innen und Unterdrückten „im Inneren“ politische Freiheiten zugesteht. Die eklektizistische und subjektivistische Herangehensweise an die Frage zeigt sich am offensten bei dem Vergleich zwischen dem anti-kolonialen Widerstand der Palästinenser:innen und Kurd:innen.
Hensgen und die Vertreter:innen des sozialchauvinistischen Lagers, allen voran die TKP und DHKP-C können doch nicht behaupten, die Palästinenser:innen hätten weniger Beziehungen zu imperialistischen Kräften als die Kurd:innen. Die Fatah ist die politische Vertretung der palästinensischen Bourgeoisie, Ausführer der aktuellen, (wenn auch Schwachen) vom Imperialismus anerkannten Autonomiebehörde. Die Hamas hatte direkte Beziehung zu Iran, später aber hat sie die Beziehung zu Erdogans Türkei vertieft und seine politische Führung dementsprechend nach Katar getragen. Es waren die USA, die die Friedensgespräche initiiert, Arafat den Friedensnobelpreis verliehen haben.
Ein militärisch-taktisches Bündnis mit der Hamas ist aus Seiten revolutionär-demokratischer Kräfte auf Grundlage der Zerschlagung der zionistischen Besatzung „legitim“, nur nicht aus politischen, denn auch, wenn sie den Imperialismus schwächt, hat sie kein politisches Programm, das den Arbeiter:innen und Unterdrückten im Inneren politische Freiheiten verspricht, sondern ein politisch-islamisches Programm mit reaktionären und konfessionellen Inhalten. Deswegen ist die Hamas zwar legitim, aber nicht unterstützenswert.[17]
Im ersten Teil und weiter oben hatten wir schon erklärt, dass diese Bewertung aber nichts mit der „Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung“ zu tun hat, sondern mit der konkreten Unterstützung einer nationalen Bewegung.
Es ist verständlich, dass der Vergleich kompliziert ist. Die palästinensische Frage umfasst die nationale Frage in Palästina und deren „Feind“ ist der zionistische Staat und deren globale Träger, der westliche Imperialismus.
Die kurdische Frage umfasst vier Staaten im Mittleren Osten. Zwei von ihnen „unterstehen“ gar nicht dem US-Imperialismus, der Irak ist kompliziert und die Türkei ist zwar militärisch, politisch und wirtschaftlich an den US-Imperialismus gebunden, hat aber auch eigene Interessen in der Region. Während Palästina „nur“ mit einem Kolonialisten zu tun hat, ist die kurdische nationale Frage in Vier geteilt. Abhängig vom Charakter und der Situation in dem jeweiligen Staat verändert sich auch die Position der Imperialisten. Das ändert aber nichts an der Realität, dass die Kurd:innen geteilt und unterdrückt wurden.
Während die USA die PKK in der Türkei und Nordkurdistan bekämpft, sie liquidieren will, versucht sie in Syrien, die Befreiungsbewegung auf ihre Linie zu bringen, um sie im regionalen Hegemoniekampf nutzen zu können. Die Grenzen der Beziehungen hatten wir weiter oben schon diskutiert.
Auch in Syrien bewegt sich die PKK und PYD nicht auf der Linie der Imperialisten.
Im Gegensatz zum Plan der US-Imperialisten setzt die PYD auf eine gesamtsyrische Lösung auf Grundlage der Demokratisierung der Region und die Schaffung und Weiterentwicklung der kurdisch-arabischen Einheit, sowie der demokratischen Errungenschaften der Revolution.
Im Gegensatz zum Plan der russischen Imperialisten liquidieren sie nicht die innere Struktur der Revolution und administrativen Verwaltung, geben sich nicht mit dem Zustand vor der Revolution, dem nationalen Joch durch das Baath-Regime zufrieden, auch nicht mit begrenzten kulturellen Rechten, sondern Fordern eine Demokratisierung des Landes, die Anerkennung der Autonomie und eine neue Verfassung, in der die politischen Freiheiten – auch die nationalen Freiheiten der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten -, und die Gleichheit der Frau garantiert wird.
Auch in Südkurdistan setzt die USA auf das Bündnis der KDP mit der Türkei und stimmt dem liquidatorischen Angriff und Plan der Zerstörung der PKK zu. Im Kampf gegen die nach der Befreiung vom IS aufgebauten Strukturen im Sindschar-Gebirge steht sie entschlossen auf der Seite der KDP und des irakischen Regimes.
In Ostkurdistan (Iran) hat die nationale Bewegung noch nicht ein Niveau erreicht, bei dem von der PKK unabhängige Bündniskonstellationen in Frage kämen.
In Rojava-Nordsyrien, in Sindschar, in den befreiten Gebieten in Nordkurdistan hat die kurdische Befreiungsbewegung zudem bewiesen, dass die nach ihrer Begründung der Macht politische Freiheiten im Inneren (zweifellos viel fortschrittlichere demokratische Freiheiten als in den bürgerlich-demokratischsten Ländern des Mittleren Ostens) bieten.
Die taktischen-militärischen Beziehungen sind nicht Ausdruck eines ideologischen Programms, sondern einer Notwendigkeit, deren Grundlage die politische und militärische Schwäche in der Region ist. Die Revolution kann nicht ohne weiteres so leben wie bisher, angesichts der zwei größten Feinde Rojavas, des türkischen Staates und des syrischen Regimes.
Die Aufgabe jedes Internationalist:innen ist es, aktiv zu kämpfen gegen die Zustände, die diese Notwendigkeiten begründen.
Vielleicht müsste die Autonomieverwaltung kein militärisch-taktisches Bündnis mit den USA eingehen, wenn die revolutionäre und antiimperialistische Bewegung in den imperialistischen Zentren, zu denen sich auch die KO zählt, es schaffen würde, den politischen Druck auf die eigenen Regierungen zu erhöhen, um die türkische kolonialistische Aggression einzudämmen.
Aus all diesen Diskussionen erfolgt: Die PKK ist als gesamte Bewegung sowohl objektiv antiimperialistisch als auch demokratisch, somit Partner im antifaschistischen und demokratischen Kampf. Sie verdient die Unterstützung der Kommunist:innen – vor allem die der unterdrückenden Nationen Türkei, Irak, Iran und Syrien.
Die PYD hat ein „begrenzt“ militärisch-taktisches Bündnis mit den USA, die die Gefahr in sich birgt – auch angesichts der klassenversöhnerischen Tendenz einer nationalen Befreiungsbewegung und der Theorie Abdullah Öcalans im Besonderen – den allgemeinen Charakter der Bewegung zu beeinflussen und die volksnahe, demokratische und „vereinende“ Linie der Revolution in Rojava-Nordsyrien zu verändern, den revolutionären Inhalt zu verhüllen.
Nicht weniger, nicht mehr!
c) Die T“K“P: eine sozialchauvinistische und kemalistische Partei
Um die Diskussion zu vervollständigen brauchen wir aber auch eine Analyse der Position der T“K“P, denn diese ist mit der DHKP-C die Avantgarde der sozialchauvinistischen Linie innerhalb der türkischen Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten.
Allen voran möchten wir unterstreichen, dass es sich bei der aktuellen TKP nicht um die historische, welche 1920 von den von Mustafa Suphi angeführten Kommunist:innen gegründet wurde handelt, sondern diese aus einer modern revisionistischer und reformistischer Gruppe, der Sozialistischen Regierungspartei (SIP) 2001 entstanden ist.
Die historische TKP unter der Führung von Mustafa Suphi und der ideologischen Leitung der jungen Kommunistischen Internationale hatte eine klare Position zur kurdischen Frage: Jegliche Unterdrückung einer Nation durch die andere wird aufgehoben und es wird eine Föderation angestrebt, die auf Freiwilligkeit beruht.[18]
Die Ermordung der Führer:innen der historischen TKP durch die kemalistische Führung führte aber zu einem tiefen Bruch mit dieser revolutionären Position zur Regimefrage. Die Neugründung der TKP 1921 unter Şefik Hüsnü geschah auf klassenversöhnerischer Basis und das wirkte sich unmittelbar auf die politische Positionierung gegenüber der kurdischen Frage aus. Seitdem bewegt sich die TKP auf einer sozialchauvinistischen Grundlage.
Diskutieren wir die Linie der aktuellen TKP anhand ihrer letzten Erklärung zur kurdischen Frage.[19]
Erstens ignoriert die TKP die politischen Subjekte der kurdischen Nation. Die Aussage, dass das kurdische Volk der Ansprechpartner bei der Lösung der kurdischen Frage ist mag volksnah und demokratisch klingen, ist aber nichts anderes als die bewusste Leugnung der kurdischen Befreiungsbewegung als politische Repräsentant:innen der Kurd:innen. Dass die TKP die PKK als die Hauptstütze der kurdischen Realität und deren politischen Repräsentanten Abdullah Öcalan nicht als Ansprechpartner anerkennt, ist nachvollziehbar (ausgehend von der programmatischen und ideologischen Linie). Aber dass sogar die HDP ignoriert wird und nicht als die Partei der kurdischen kollektiven Kampfes und als Ansprechpartner anerkannt wird, ist nicht nur eine ideologische Schwäche, sondern eine Schuld, die Wiederspieglung der Leugnungspolitik des kemalistischen Regimes gegenüber den Kurd:innen war. Sogar die kemalistische CHP hat zugegeben, dass die Lösung der kurdischen Frage ohne die HDP unmöglich ist und dass sie die HDP als legitime Ansprechpartner anerkennen werden. Natürlich war das eine taktische Aussage im Hinblick auf die Wahlen. Trotzdem zwingt die national-demokratische Kraft sie, die politischen Subjekte der Kurd:innen anzuerkennen. Die TKP aber ignoriert die Subjekte. Gleiches zeigt sich auch bei dem Versuch, ein „neues sozialistisches Bündnis“ jenseits der und ohne die HDP zu etablieren.
Um diesen Sozialchauvinismus zu vertuschen, klammern sie sich an die allgegenwärtige Lüge, „dass einige Kurden in diesem Land ihre Hoffnung auf die internationalen Großmächte gesetzt haben“ und führen so die altbekannte Argumentation fort, die PKK teile in US-amerikanischer Aufsicht das Land.
Die Erklärung ist ein ausgezeichnetes Beispiel für den im ersten Teil ausführlich diskutierten Monismus in der Bewertung. Indem die TKP erklärt, dass „weder der kurdische oder der türkische Nationalismus […] dem anderen vorgezogen werden“ kann, setzt er die beiden Nationalismen gleich.
Um seinen Sozialchauvinismus in einer Zeit des anwachsenden faschistischen und kolonialistischen Terrors zu vertuschen geht die TKP noch weiter als Hensgen und erklärt, dass es „es auf der Welt keine einzige Region mehr [gibt] […], in der eine Nation als Ganzes ohne die Unterscheidung der Ausbeuter von den Ausgebeuteten befreit werden kann“, also das Recht auf Selbstbestimmung als demokratische Forderung gänzlich veraltet ist, nicht mehr gilt und sich mit dem Sozialismus automatisch lösen wird. Dementsprechend ist auch jede Form des Nationalismus schädlich.
Ohne auf die grundlegenden theoretischen Details einzugehen, die wir im ersten Teil ausführlich ausgeführt hatten, ist die Gleichsetzung des Nationalismus der Kurd:innen (im Folgenden werden wir das Patriotismus einer unterdrückten Nation nennen) und den Kampf für politischen Status und Selbstbestimmung mit dem chauvinistischen Nationalismus der unterdrückenden Nation von Erdogan-Bahceli-Perincek-IYIP-CHP die gröbste und offenste Form des Sozialchauvinismus.
Es ist nicht der kurdische Nationalismus, der den türkischen provoziert. Der türkische Nationalismus ist die Ideologie, die die Kolonialisierung Kurdistans begründet. Kolonialismus schafft auf Seite der Kolonisierten Patriotismus und dieser spielt – im Verlauf einer demokratischen Bewegung für die Gewinnung politischer Freiheiten – eine fortschrittliche Rolle. Die Aufgabe der Kommunist:innen ist es, den kurdischen Patriotismus als ein Bündnispartner im Kampf gegen den kolonialistischen „eigenen“ Staat zu gewinnen, um den türkischen Nationalismus, der maßgeblich organisiert wird vom kolonialistischen Staat selbst, zurückzudrängen.
Die TKP ignoriert jegliches kollektive Recht der Kurd:innen, begrenzt das kurdische Problem auf einige kulturelle Rechte (wie die Freiheit der Sprache), kann dieses Recht aber noch nicht einmal als kollektives Recht formulieren (wie Bildung in kurdischer Muttersprache etc.), definiert und löst das Problem nicht, sondern schlägt vor, von demokratischen und kollektiven Rechte als unterdrückte Nation abzusehen, der gemeinsamen Zukunft in der „sozialistischen Türkei“ willen – denn da wird es auch keine kurdische Frage geben.
Indem Fragen der Demokratie auf diese Weise auf den Sozialismus verlagert werden, verlieren demokratische Bewegungen und Forderungen ihre eigene Kampfbasis. Das ist der imperialistische Ökonomismus, den Lenin schon ausführlich diskutiert und offengelegt hatte.
Die kurdische Frage als eine Frage der „Gleichheit“ und „Freiheit“ definieren, aber diese als demokratische Forderungen nicht formulieren können, ganz im Gegenteil diese Forderungen als „spaltend“ bewerten und all dieses sozialchauvinistische Gelabere hinter großen Worten wie „Klassenperspektive“, „Sozialismus“ und Parolen wie „Keine Freiheit ohne Brot“ verstecken, kann nur das Werk sozialchauvinistischer „Schuften“ sein.
Verbunden mit einem groben Imperialismusverständnis, der das „Bindeglied“ aus den Augen verliert, verliert sich die TKP außerdem in einem klassischen „3. Welt-Nationalismus“, der objektiv Anhängsel und Verfechter einer „nationalen“ Unabhängigkeit der nationalen (vor allem mittelgroßen) Bourgeoisie wird.
Natürlich werden wir hier nicht diskutieren, welche Parteien „wichtiger“ oder „besser“ ist – so wie sie von Hensgen geführt wurde. Denn die Beantwortung dieser Frage hängt maßgeblich mit dem Revolutions- und Sozialismusverständnis des:der Fragesteller:in ab. Und da gibt es offensichtlich strukturelle Unterschiede zwischen beiden Organisationen und Parteien.
Während die TKP relative Freiheit der Organisierung und Versammlung genießt, TKP-Mitgliedschaft gesetzlich geschützt wird, ist die MLKP eine funktional zwei-geteilte Partei mit illegal organisiertem Skelett bestehend aus Berufsrevolutionär:innen, deren Führer:innen und Aktivist:innen getötet, verhaftet und vertrieben werden, die Mitgliedschaft mit mindestens 7,5 und bis zu 15 Jahren Haft bestraft wird.
Während die TKP den Kampf für den Sozialismus abhängig macht von Ungewissheiten und nicht konkretisieren kann, wie sie die Diktatur des Proletariats in der Türkei errichten wird (unbewaffnet, mit einem Volksaufstand, im Parlament oder wie?), stellt die MLKP die Gewinnung der politischen Freiheiten durch eine „antiimperialistische, antikoloniale, geschlechterbefreiende demokratische Revolution“ als Voraussetzung für den Kampf für den sozialistischen Aufbau in einem Staat, der aktuell faschistisch ist und entwickelt die revolutionäre Strategie und Taktik dementsprechend, versucht alle Mittel für den Sieg der Revolution (friedlich, basierend auf praktisch-legitimen Kampfmitteln und bewaffnet, Guerilla in der Stadt und in den Bergen, die demokratischen Kräfte im Parlament, durch Bündnisse mit anderen revolutionären antifaschistischen Kräften etc.) zu mobilisieren.
Während die TKP „einer gemeinsamen Zukunft“ willen die Kurd:innen zu einer Ein-Staatenlösung überzeugen will und die Tradition der TKP von Sefik Hüsnü von 1921 weiterführt, steht die MLKP für das bedingungslose Recht der kurdischen Selbstbestimmung, kämpft selbst aber für eine Union der Volksrepubliken, eine demokratische und sozialistische Föderation in der Region – ganz auf der Linie der historischen TKP, die 1920 in Baku gegründet wurde.
Die Liste kann „unendlich“ weitergeführt werden. Es geht uns nicht darum, die beiden Parteien zu vergleichen, sondern eben die Unmöglichkeit des Vergleichs ausgehend von Kategorien „besser“ und „wichtiger“ aufzuzeigen. Beide Parteien sehen zwei grundverschiedene Zukünfte, auch wenn beide vom Sozialismus in der Türkei reden.
Jede:r, der die TKP als die politische Referenz nimmt in Bezug auf politische Entwicklungen im Mittleren Osten, wird aus der Perspektive einer sozialchauvinistischen, türkischen Brille gucken, die geleitet wird von dem zwanghaften Programm, die Einheit der Türkei zu wahren – auch wenn sie dafür die grundlegenden Prinzipien des Sozialismus über Bord werfen muss.
Das kommunistische Programm
Jede gesellschaftliche Frage hat unter kapitalistischen Umständen zwei grundlegende Arten der Lösung; eine werktätig-revolutionäre oder eine bürgerliche Lösung.
Während die nationale Befreiung auch bürgerlich realisiert werden kann und den kapitalistischen Weg geht, so wie in Südkurdistan, stehen Kommunist:innen für die werktätige Lösung – das heißt für eine vereinte Bewegung Richtung Sozialismus.
Entgegen dem zwanghaften Festhalten an den heutigen (von Imperialisten gezogenen) nationalen Grenzen setzen die Kommunist:innen einen anderen Maßstab:
„Die Revolution der Türkei und Kurdistans, birgt unter den Bedingungen der Regionalen Revolution die Möglichkeit der Entwicklung in den folgenden Formen: Vereinigte Revolution von Türkei/Kurdistan, alleinige Selbstbefreiung von Kurdistan, Vereinigte Revolution der anderen drei Teile Kurdistans in Zusammenhang mit Revolutionen im Iran, Syrien und im Irak.
Die kommunistische Bewegung kämpft im Bewusstsein all dieser Möglichkeiten. Sie sieht diese Entwicklung als Teil der regionalen Revolution des Mittleren Ostens.
Sie arbeitet für den Aufbau Regionaler Demokratischer oder Sozialistischer Föderationen im Mittleren Osten, Balkan und Kaukasus […]
Die Revolution des in Vier geteilten Kurdistans ist auch die Revolution der Türkei, des Iran, des Iraks und Syriens. Obwohl auch die alleinige Befreiung von Kurdistan möglich ist, sind die Erlangung von politischer Freiheit in der Türkei wie in den drei weiteren genannten Ländern sowie der Aufbau von auf Räte der Arbeiter*innen und Werktätigen gestützten Volksrepubliken eine Stufenleiter auf dem Weg zur Vervollständigung und Absicherung der Kurdistan-Revolution. Es ist eine der primären Aufgaben des Proletariats, die Bildung einer auf Räte der türkischen, kurdischen, arabischen, persischen und allen anderen Völkern dieser Regionen gestützte föderative Vereinigung sicherzustellen. Die kommunistische Bewegung kämpft für die Freiheit und Vereinigung der vier Teile Kurdistans.“ [20]
a) Die werktätige Lösung der nationalen Frage in Kurdistan un die Revolution in der Türkei
„In der Türkei und in Nordkurdistan, wo die Gewalt eines faschistischen Regimes die Arbeiter*innenklasse, die Werktätigen, die kurdische Nation, Frauen, nationale und religiöse Gemeinschaften in demselben politischen Schraubstock einzwängt, wo Kurdistan unter dem Joch des Kolonialismus gehalten wird, wird es auf Grund einer Vielzahl wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Widersprüche und Folgen, die aus dem finanzökonomischen Kolonialismus resultieren, notwendig, dass das Proletariat gemeinsam mit diesen Verbündeten eine demokratische Revolution organisiert, sich selbst im Sinne des Sozialismus erzieht und die Vorbedingungen für den Sozialismus schafft. Aus diesem Grund ist der erste Schritt unserer Revolution eine antifaschistische, antiimperialistische, antikoloniale, geschlechtsbefreiende demokratische Revolution. Der Inhalt dieser Revolution ist die Eroberung der politischen Freiheit.
Das Proletariat muss den Sieg der demokratischen Revolution erkämpfen, um zur sozialistischen Revolution voran schreiten zu können. Deshalb bildet es mit der ländlichen und städtischen Kleinbourgeoisie, den nationalen und religiösen Gemeinschaften, der kurdischen Nation und dem unterdrückten Geschlecht ein strategisches Bündnis auf Grundlage seines Minimalprogramms. Das Ziel ist hier der Aufbau einer Macht der Union der Volksrepubliken der Türkei und Nordkurdistans.“[21]
Um zum Sozialismus überzugehen, braucht es also ein Zwischenschritt, in der die „brennendsten“ demokratischen Forderungen gewonnen werden. Antifaschistisch, weil sie die faschistische Diktatur zerschlagen wird, antiimperialistisch, weil sie die imperialistische Abhängigkeit beenden wird, antikolonial, weil sie die kolonialistische Besetzung und Unterdrückung der kurdischen Nation zerschlagen wird, geschlechterbefreiend, weil sie das Minimalprgramm der Geschlechtergleichberechtigung einführen wird. Nur durch eine solche Revolution und die Gewinnung der politischen Freiheiten kann der Weg zum Sozialismus geöffnet werden:
„Die kommunistische Bewegung betrachtet die demokratische Revolution als äußerst wichtige Aufgabe, deren Wert aber relativ und abhängig von der Zielsetzung der sozialistischen Revolution ist. Aus diesem Grund unterstützt sie die kurdisch-nationalen, bäuerlich-demokratischen, demokratischen Frauen- und allgemeinen demokratischen Volksbewegungen und macht sich die Forderungen dieser zu Eigen; andererseits aber vereinigt sie die kurdischen Arbeiter*innen, die Arbeiter*innen der Landwirtschaft und die Arbeiterinnen in Klassenorganisationen, die unabhängig von der allgemeinen demokratischen Bewegung sind […] Es folgt der Linie des sozialistischen Patriotismus in Kurdistan.“
Die Linie des sozialistischen Patriotismus ist die Politik, die das Recht der Einheit und Selbstbestimmung auf einer „vereinenden“ und sozialistischen Perspektive verteidigt und erkämpft, die also unmittelbar Teil des demokratischen nationalen Kampfes ist, diesen Kampf aber als ein Zwischenschritt für den Sozialismus wahrnimmt.
Wie wird diese Revolution die nationale Frage nun in der Türkei/Nordkurdistan lösen?
„1. Die kolonialistische faschistische Diktatur der kollaborierenden Monopolbourgeoisie wird durch eine gewaltsame Revolution gestürzt werden und an ihre Stelle wird die Union der Volksrepubliken der Türkei und Nordkurdistans aufgebaut werden, in der das Recht auf Trennung geschützt wird und die sich auf die Räte der Arbeiter*innen und Werktätigen stützt […]
6. Den Volksmassen wird die Freiheit der Propaganda, Agitation, der Organisation und Aktion anerkannt, die Gewährleistung dieser Freiheiten wird garantiert; Strafformen, die nicht mit der Würde des Menschen vereinbar sind, sowie Folter abgeschafft; Diskriminierung auf Grund von Religion, Konfessionszugehörigkeit, Sprache, Nationalität, Geschlecht, sexueller Neigung, Gebietszugehörigkeit usw. unter den Bürgern werden verhindert […]
8. Die Türkei wird die NATO verlassen, wird keinem imperialistischen oder reaktionären, militärischen oder politischen Block angehören, US- und NATO-Stützpunkte und –Einrichtungen werden besetzt, alle Geheimverträge werden enthüllt, geheime und offene Verpflichtungen werden aufgehoben […]
14. Die Politik der Assimilierung, des kolonialistischen faschistischen Terrors und des schmutzigen Krieges gegen die kurdische Nation wird beendet. Hindernisse auf dem Weg der kurdischen Nation, die sie daran hindern, ihr Recht auf Gründung eines eigenen Staates, die Freiheit der Agitation, Propaganda und Organisierung zu diesem Zweck auszuüben, werden aufgehoben und das Recht auf Vereinigung des kurdischen Volkes wird anerkannt und verteidigt.
15. Die vollständige Gleichheit der Rechte zwischen Kurd*innen und Türk*innen wird in allen Bereichen garantiert werden, Unterdrückungen sämtlicher Sprachen und Kulturen werden abgeschafft, ein systematischer Kampf gegen den türkischen Nationalismus wird geführt; Anstrengungen werden gemacht, damit die türkischen und kurdischen Völker genauso wie Las*innen, Roma, Abchas*innen, Georgier*innen, Tscherkess*innen, Araber*innen, Armenier*innen, Griech*innen, Bosnier*innen, Pomak*innen, Assyr*innen, Jesid*innen und alle anderen Nationalitäten in der Union der Volksrepubliken der Arbeiter*innen und Werktätigen auf der Grundlage völlig gleicher Rechte und ganz freiwillig zusammenleben werden […]
17. Der systematische Genozid der Machthabenden der Türkischen Republik am kurdischen Volk, angefangen mit dem Genozid in Dersim gegen die kurdischen Alevit*innen und in Zilan, werden verurteilt und auf die Forderungen der Geschädigten wird eingegangen […]
19. Die aggressive und expansionistische Politik der herrschenden Klassen bezüglich dem Mittleren Osten, dem Balkan und Kaukasien und die Besetzung Zyperns wird beendet werden. Ihre pantürkische-panislamische Expansionspolitik, die zur Vergiftung der Gedanken der türkischen Arbeiter*innen und Werktätigen die unter dem Deckmantel der Verteidigung von Rechten türkischer und muslimischer Völker in anderen Ländern mit Chauvinismus und Antikommunismus genutzt wird, wird aufgedeckt und abgelehnt werden.
20. Alle Forderungen der palästinensischen Nation mit revolutionärem und demokratischem Inhalt werden unterstützt und es wird Schulter an Schulter mit dem Kampf für den Sieg der palästinensischen Revolution voran geschritten werden […]
45. Die reaktionär-faschistische Strömung und das sexistische Erziehungssystem, welche die Jugend mit reaktionären, faschistischen, chauvinistischen, religiösen und militärischen Ideen vergiftet, wird abgeschafft werden. Die Universitäten werden autonom-demokratisch sein. Die Erziehung wird mit der Produktion vereint, die Jugend wird mit den benötigten Voraussetzungen zur wissenschaftlichen und revolutionären Bildung in der Muttersprache versorgt werden und die Bildung wird kostenlos sein.“ [22]
b) Das kommunistische Programm in Rojava und Nordsyrien
„Die Rojava-Revolution der kurdischen Nation gegen das reaktionäre Assad-Regime und den arabischen Kolonialismus in Rojavayê Kurdistan [Westkurdistan], ist eine Ausbreitung und Errungenschaft der Kurdistan-Revolution, der regionalen revolutionären Situation und der regionalen Revolution. In Rojava ist die Macht einer Volksdemokratie aufgebaut worden, die sich auf das Prinzip vollständiger rechtlicher Gleichstellung stützt, welches das freie und gleichberechtigte Zusammenleben der Völker garantiert. Die Rojava-Revolution ist zugleich eine Frauenrevolution.
a) Die kommunistische Bewegung sieht die Verteidigung der Rojava-Revolution als einen direkten Arbeitsbestandteil der Organisierung der vereinigten Revolution der Türkei und Kurdistans sowie der Vertiefung und Reifung der revolutionären Situation und der Befreiung der Völker in der Region. Sie arbeitet für die Organisierung und Entwicklung der revolutionären Verteidigung des Landes.
b) Sie arbeitet mit der Perspektive unabhängige Klassenorganisationen zu entwickeln und ohne Unterbrechung zum Sozialismus voran zu schreiten, innerhalb der Massen für die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins und die Vorbereitung des Übergangs zur sozialistischen Revolution, indem sie die Arbeiter*innen und Halbproletarier*innen der kurdischen, arabischen und anderen Völker, die ländliche und städtische Armut, die Frauen und Jugend sowie die Völker Rojavas im Sinne des Sozialismus aufklärt und zu vereinigt.
c) Sie arbeitet für die Selbstverwaltung der Völker in Form von Räten und Kommunen der Arbeiter*innen, Werktätigen und Armen und für einen wirkungsvollen Einfluss und die Kontinuität dieser Strukturen, um die Kontinuität und die Zukunft der Revolution zu gewährleisten.
d) Sie erarbeitet Maßnahmen der Vergesellschaftung, die das wirtschaftliche Fundament der Volksmacht stärken, um die Bedingungen für das Voranschreiten der ununterbrochenen Revolution zum Sozialismus vorzubereiten.“ [23]
Inmitten des Krieges in Syrien und der Verteidigung der nationalen, demokratischen und revolutionären Errungenschaften in Rojava/Nordsyrien ist eine neue kommunistische Bewegung aus der revolutionären Verschmelzung der Beteiligung der Kommunist:innen aus der Türkei und Nordkurdistan mit der lokalen Arbeiter:innen- und Volksbewegung entstanden.
Die Revolutionäre Kommunistische Bewegung (TKŞ), die sich selbst als die „Zukunft der Revolution“ definiert, hat ihr eigenes Programm für Rojava-Nordsyrien herausgearbeitet und bietet für den:die „analysefreudige:n“ Leser:in den nächsten Einblick in die Entwicklungen dort.
„Die Revolution von Rojava bewegt sich unter den Bedingungen der regionalen Revolution in Richtung einer syrischen Revolution. Die Gebiete Nord- und Ostsyriens stehen unter der Kontrolle revolutionärer Kräfte, das kolonialistische BAATH-Zentrum wiederum befindet sich in einer konterrevolutionären Position. Es ist strategisch, das Bewusstsein und die Organisation der arabischen Arbeiter:innen und Werktätigen zu stärken und das Bündnis der kurdischen und arabischen Völker zu erweitern, um die Zukunft der Revolution zu sichern und den Kampf gegen das syrische BAATH-Regime zum Sieg zu führen […]
Im strategischen Ziel der kommunistischen Bewegung steht die Demokratisierung Syriens. Sie versucht, das revolutionäre demokratische und volksnahe System in Rojava-Nordsyrien in ganz Syrien zu verbreiten. Unter den Verhältnissen der Kollaboration und Abhängigkeit vom Imperialismus, der eingreifenden Existenz regionaler kolonialistischer Staaten stellt sie das Ziel der Demokratisierung Syriens als eine Frage der Revolution.
Die kommunistische Bewegung sieht es taktisch nicht als falsch an, unter der Voraussetzung der Beibehaltung der Errungenschaften der Revolution in Rojava-Nordsyrien Föderationen, politische Autonomien oder dergleichen zu schaffen, die auch gesetzlich-verfassungsrechtlich von syrischem Regime garantiert werden. Außerdem erkennt sie die Befreiung der vom kolonialistischen türkischen Staat besetzten Städte Efrin, Serekaniye, Girespi, als auch Bab, Azes und Cerablus als eine ihrer priorisierenden Aufgaben an.“ [24]
Zur „sozialen und ökonomischen Struktur in Rojava und Nordsyrien“ sagt die Bewegung folgendes:
„Die kapitalistische Agrarproduktion, das Kleingewerbe und der Kleinhandel, die das Erbe der früheren Periode in Rojava und Nordsyrien sind, sind weiterhin bestimmend, andererseits entwickeln sich das Kooperativsystem und das Kollektiveigentum. Als Folge des kolonialistischen Erbes in Rojava gibt es kaum noch eine moderne Industrie.
Der politische Überbau ist als Volksräte von unten nach oben organisiert. In den ökonomischen Beziehungen existieren kapitalistisches Privateigentum und verschiedene Formen des öffentlichen Eigentums nebeneinander […]
In seiner derzeitigen Lage befindet sich das Proletariat auf der Ebene der Organisierung und des Bewusstseins im Rückstand, um die politische Führung der Revolution zu übernehmen. Aus diesem Grund entwickelt sich die Revolution in der Mittellinie der Bündnispolitik der kleinbürgerlichen revolutionären Führung innerhalb der Arbeiter:innen, Werktätigen, nationalen Gemeinschaften und Geschlechtsidentitäten.
Um eine Macht und die Fähigkeit zu erlangen, durchgehend von der demokratischen Revolution zum Sozialismus überzugehen, ist die Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivität der Arbeit in jedem Bereich und auf jeder Ebene, ein Industriesprung auf der Grundlage des Volkseigentums, die Entwicklung des Organisierungs- und Bewusstseinsniveaus des Proletariats, die Stärkung der politischen, ideologischen Wirkung und der Führungskapazitäten der proletarischen Partei unter allen Unterdrückten, insbesondere den Arbeiter:innen, erforderlich […]
Angesichts der proportionalen Unterschiede in Rojava und Syrien besteht die mittlere Bourgeoisie als Klasse aus mittelgroßen Unternehmern vor allem in Städten mit arabischer Mehrheit und nahe dem BAATH-Regime sowie aus reichen Bauern in ländlichen Gebieten. Dies konkretisiert sich in Rojava in Form von Reichtum basierend auf Landbesitz und Identität des Handelsbürgertums. Einige Stammesanführer gehören ebenfalls zu dieser Schicht, aufgrund der Personen, die sie haben, und der Landmöglichkeiten […]
Ein wichtiger Teil der mittleren Bourgeoisie, die grundsätzlich eine Ausbeuterklasse ist, tauschte ihr Vermögen in Bargeld um und floh in den Tagen der Revolution in andere Länder.
Aber eine beträchtliche Anzahl von ihnen schloss sich mit ihrer finanziellen und menschlichen Macht den Linien der Revolution an, parallel zur Entwicklung derselben. Sie wurden vor allem zum Adressaten für die Allianzen auf Stammesebene und brachten sich in einige Leitungsaufgaben ein.
Die mittlere Bourgeoisie, die ihre Existenz durch die von kapitalistischen Gesetzen beherrschten Märkte in den Städten und durch die alten Eigentumsverhältnisse in den Landgebieten aufrechterhalten will, behält die Rolle der wichtigsten vermittelnden gesellschaftlichen Kraft im demokratischen Revolutionsprozess. Die Einflüsse und Möglichkeiten dieser Klassen auf die Revolution und die Massen müssen durch rechtliche, exekutive und ideologische Maßnahmen beseitigt werden, und diese Bevölkerungsschichten müssen schrittweise isoliert werden. Das aus den Überbleibseln der Feudalherrschaft stammende Fellah-System besteht mit dieser Klasse fort und schafft eine beträchtliche Menge an nicht erworbenem Produkt- und Arbeitseinkommen, was den ausbeuterischen Charakter der mittleren Bourgeoisie konkretisiert.
Ein Teil, der es nicht vorgezogen hat, mit Banden in den Besetzungen von Afrin, Giresipi und Serekaniye zu leben, hat sein Eigentum verloren und ist verarmt.
Die Baathistische Großbourgeoisie ist das Zentrum der Konterrevolution. Auch wenn sie aus Rojava und Nordsyrien größtenteils herausgezogen sind, halten ihre Auswirkungen und Erwartungen, in das Alte zurückzukehren, an. Um die alten Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten, sind sie in der Lage, jedes Mittel, einschließlich Krieg, einzusetzen. Die baathistische Bourgeoisie, die sich mit Unterstützung Russlands, des Irans und einiger regionaler Mächte bis heute gehalten hat, wird diese gefährliche Position so lange beibehalten, bis sie vollständig zerstört und eine neue revolutionäre Macht errichtet ist.
In der von Rojava-Nordsyrien kontrollierten Region gibt es immer noch einige politische Institutionen, Wirtschaftsunternehmen und militärische Strukturen, die dem BAATH-Regime gehören, und Gruppen wie Beamte, Lehrer:innen, Gesundheitspersonal und Bahnarbeiter:innen werden immer noch vom Regime bezahlt. Mit der Besetzung von Giresipi und Serekaniye verstärkte das Regime seinen militärischen Präsenz, indem es seine Streitkräfte an den Grenzlinien stationierte.“
Die Revolution ist aus Sicht der Kurd:innen eine antikoloniale und geschlechterbefreiende demokratische Revolution. Mit der Rojava-Revolution haben die Kurd:innen ihre politischen Freiheiten gewonnen. Um in Nordysyrien-Rojava und in Syrien zum Sozialismus übergehen zu können, muss die demokratische Revolution verteidigt und deren Sieg garantiert werden. Denn diese ist weiterhin unter den Angriffen der reaktionären Staaten, dem Baath-Regime und entwickelt sich weiterhin nicht nach den Plänen der Imperialisten im Mittleren Osten.
Für einen Übergang zum Sozialismus muss sich die kommunistische Bewegung in der – heute weiterhin quantitativ schwachen – Arbeiter:innenklasse verankern, aber auch den Einfluss in der allgemeinen demokratischen und gesellschaftlichen Dynamiken erhöhen. Während die Einheit Kurdistans „selbst“ nicht unmöglich ist, ist sie sehr schwer zu erreichen. Um die Freiheit in Kurdistan zu erlangen ist es maßgeblich, die politischen Freiheiten in der Türkei und im Iran zu gewinnen, Syrien zu demokratisieren und die gewonnene faktische Föderation in Südkurdistan zu garantieren, indem die bürgerliche und wackelige Führung überwunden wird.
„Es wird der Realität entsprechend gehandelt, dass die Imperialisten grundlegende Feinde unserer Revolution sind und daraus Folgend wird es maßgeblich, die Linie fortzuführen, die auf eigene und unabhängige Kräfte beruht. Während die Widersprüche zwischen den Imperialisten zur Vorteil der Revolution genutzt werden können, werden besondere Vorkehrungen zum Schutz der unabhängigen Linie getroffen. Alle internationalen Abkommen werden dem Volk offengelegt.“ [25]
Die Kommunist:innen versuchen mit politischen und gesellschaftlichen Arbeiten Elemente des Sozialismus in die Volksherrschaft und die politische Ökonomie zu integrieren und somit die soziale Basis für den Sozialismus zu stärken. Programmatisch fordern sie, dass die Großgrundbesitzer, die Gebäude und Länder im syrischen Staatseigentum, die Ressourcen auf und unter der Erde, sowie alle Produktionsmittel und der Handel in Staatseigentum verwandelt wird. Die nun gewonnenen politischen Freiheiten (Freiheit der Organisation, der Versammlung, der Agitation und Propaganda usw.) nutzen sie für die Ausbreitung der demokratischen Revolution in Syrien und den ununterbrochenen Übergang zum Sozialismus. Dass sowohl die gesellschaftlich-materielle Realität, die vor allem von den Flecken des kolonialistischen Jochs gekennzeichnet ist, als auch die gesellschaftliche Kraft des Proletariats, sowie das Fehlen einer kommunistischen Partei machen diese Aufgaben wahrlich nicht zu „einfachen“. Aber mit ihrem Programm und ihrer Praxis zeigt die TKŞ, wie Rojava-Nordsyrien heute, Syrien mit der Demokratisierung den Weg für den Sozialismus ebnen kann.
Eine Revolution wird organisiert, sie wird verteidigt und sie siegt oder sie kann nicht verteidigt werden und wird besiegt. Und auch nach dem Sieg der Revolution wird die Richtung der Revolution „bestimmt“ durch das wechselseitige Verhältnis zwischen objektiven Gegebenheiten und den Machtverhältnissen der politischen Subjekte. Dieser Prozess läuft in Rojava-Nordsyrien noch.
Natürlich muss die national-demokratische Revolution in Rojava-Nordsyrien verteidigt und weitergetragen, in Syrien verbreitet und deren Errungenschaften gefestigt/garantiert werden. Das Proletariat kann nur zum Sozialismus voranschreiten, wenn sie die demokratische Revolution bis zum Ende weiterführt und die qualitative Führung innerhalb des revolutionären Prozesses gewinnt.
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Die Auseinandersetzung zur Krise der kommunistischen Bewegung im Allgemeinen empfinden wir als sehr wertvoll und die Diskussionen zu der Frage zu wichtig, um sie in dem Rahmen auszuführen. Trotzdem möchten wir zusammenfassend unterstreichen, dass die Krise der internationalen kommunistischen Bewegung oder der Subjekte des Kampfes für den Sozialismus keine „analytisch“ und/oder theoretisch begründete, sondern durch und durch praktische ist. Die Krise zeigt sich in der politischen Bedeutungslosigkeit auf der Bühne der Klassengesellschaften, die Schwäche der praktischen Aktion, die es schafft, „den jetzigen Zustand aufzuheben“ (Marx), also Geschichte zu machen.
Die (in diesen beiden Artikeln diskutierten) ideologischen und theoretischen Schwächen tragen maßgeblich zu der politischen, theoretischen, praktischen und psychischen Lähmung der internationalen revolutionären, kommunistischen und werktätig-linken Bewegung bei. Zweifelsohne werden diese Diskussionen und die daran gebundene praktische Aktion, die diese Schwächen in der Politik „aufhebt“, die neue kommunistische Bewegung aus der komplexen Realität und nachteiligen Zuständen unseres 21. Jahrhunderts erneut erwachen lassen.
Wie gesagt ging es uns in dieser Auseinandersetzung mehr um die inhaltliche Ablehnung des imperialistischen Ökonomismus und Sozialchauvinismus und Hensgen bot uns die Grundlage dafür. Der:die Leser:in sollte diese Artikelreihe als ein Versuch lesen, die Herangehensweise der Kommunist:innen in der Türkei und Kurdistan zur kurdischen Frage (aber auch zur nationalen Frage im Allgemeinen) in Abgrenzung zur sozialchauvinistischen Linie zu systematisieren.
Ironischerweise führen wir diese Polemik schon wieder „am Anfang eines Krieges“. Schließlich möchten wir aber eine (Selbst-)Kritik der Polemiken von vor zwei Jahren anführen. Der Titel spiegelte eine ungesunde Selbstsicherheit und Naivität wieder: „Abschließend“ war die Polemik nicht und sie kann es auch nicht sein. Denn solange der Imperialismus existiert, werden wir uns mit beiden ideologischen Richtungen (Sozialchauvinismus und imperialistischer Ökonomismus) beschäftigen müssen.
Da ist auch nicht mehr wichtig, ob Hensgen „als Kurde“ denkt und schreibt – wie er im letzten Satz noch ergänzt, als würde die Information seine Standpunkte „kurdischer“ aussehen lassen. Denn mit seiner Referenz (der TKP) steht er standfest auf dem Boden des türkischen Chauvinismus.
[1] Hensgen.
[2] Selbstverwaltung, Föderation, Rojava. Broschüre von YS.
[3] Hier einige aktuellere Beispiele von Interviews und Erklärungen:
https://anfdeutsch.com/hintergrund/bayik-die-apoisten-haben-gedacht-geglaubt-und-gelebt-29495
https://anfdeutsch.com/kurdistan/kck-statement-zum-jahrestag-des-internationalen-komplotts-28700
https://anfdeutsch.com/kurdistan/pkk-lasst-uns-das-44-kampfjahr-zum-jahr-des-sieges-machen-29522
[4] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/pyd-regierung-in-damaskus-vertieft-die-krise-29448
[5] https://anfdeutsch.com/hintergrund/kck-die-nato-gehort-abgeschafft-28749
[6] https://anfdeutsch.com/hintergrund/kalkan-fur-globale-machte-ist-die-kolonialpolitik-in-kurdistan-essentiell-29089
[7] Ebd.
[8] Hensgen.
[9] Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
[10] https://anfdeutsch.com/aktuelles/kck-fahndung-durch-usa-ist-teil-des-komplotts-7644
[11] Aktuell befinden sind 10 kurdische Aktivist:innen in Haft. Weiteres zur Kriminalisierung kann auf jegliche öffentliche, politische Veranstaltung und Aktion auf offener Straße erfahren, sowie in dieser Pressemitteilung gelesen werden: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/azadi/presse/2021/210830.html
[12] TKP-Erkärung, zitiert aus Hensgen. Ohne weiter zu vertiefen, möchten wir an dieser Stelle auch unterstreichen, dass das „Imperialismus-Verständnis“ der TKP veraltet ist. Es reicht ein Blick in die industrielle Produktion. Dort wird man sehen können, dass die finanz-ökonomische Abhängigkeit im Rahmen der imperialistischen Globalisierung die Industrie erst entwickelt und die Türkei in ein gemäßigt entwickeltes kapitalistisches Land gemacht hat. Es geht uns nicht um eine Verschönigung des Imperialismus, sondern um das Verständnis der materiell-gesellschaftlichen Realität. Mit der Verlagerung der industriellen Produktion aus den imperialistischen Ländern in die Neokolonien haben sich die alten Industrieländer (imperialistischen Länder) in finanz–kapitalistische Zentren, die Neokolonien in industrielle Produktionszentren verwandelt.
[13] Dass solche Mittel nötig sein können, um die gesellschaftlichen Widersprüche und Schwächen, die von „äußeren Kräften“ ausgenutzt werden können, zu verringern, zeigt unsere gemeinsame Geschichte. Allein der Zeitabschnitt in der SU kurz vor dem 2. Weltkrieg bietet uns zahlreiche Erfahrungen – auch um kritische Lehren zu ziehen. Nichtsdestotrotz ist herauszustellen, dass es die Autonomieverwaltung und die Revolution in Rojava-Nordsyrien es geschafft hat, die Widersprüche zu verringern und die arabischen Völker unter dem Schirm der demokratischen Selbstverwaltung zu vereinen.
[14] Hensgen.
[15] https://syrianobserver.com/features/66477/biden-changes-course-in-northeastern-syria-ending-trumps-delta-crescent-energy-deal.html
[16] „Strategisch“ bezieht sich nicht auf Konsumgüter und Hilfen, sondern auf „bleibende“ strategische Investitionen des Wiederaufbaus und der schweren Industrie
[17] Gleiches gilt auch für die Taliban in Afghanistan.
[18] Programm der TKP, verabschiedet auf dem 1. Kongress 1920 in Baku.
[19] http://www.tkp-deutschland.com/in_der_kurdischen_frage_ist_der_richtige_ansprechpartner_das_werktaetige_volk/
[20] Programm der MLKP, aktuelle Fassung, verabschiedet auf dem 6.Parteitag.
[21] Ebd.
[22] Das Programm der antifaschistischen, antiimperialistischen, antikolonialen, geschlechterbefreienden Revolution im MLKP-Programm, aktuelle Fassung, verabschiedet auf dem 6.Parteitag.
[23] MLKP-Programm
[24] Programm der TKŞ, erscheint in Kürze vollständig im Deutschen. Leser:innen, die arabisch und kurdisch verstehen, können sich das Programm und die Strategie auf ihrer Webseite durchlesen: https://www.tevgerakomunist.com/ku/
[25] Programm der TKŞ.