Ezgi Şalcı war eine Genossin der SGDF (Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei), die am 20.07.2015 beim Suruc-Anschlag fiel. Sie war eine wichtige Pionierin beim Aufbau der sozialistischen LGBTI+ Arbeiten. Im Zuge eines Projektes schrieben vor allem LGBTI+ Personen Ezgi Briefe. Eins davon wollen wir mit euch teilen.
Liebe Freundin, liebe Genossin…
Alle von uns durchleben schwere Zeiten. Trotz der unzähligen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen wir uns konfrontiert sehen, versuchen wir unseren Kampf ums Überleben und unsere Mühe Mensch zu sein nicht aufzugeben. Obwohl die Schwierigkeiten, die alle erleben, auf ihre Weise einzigartig sind, ist das, was uns zusammenbringt, was uns auf den gleichen Punkt der unterdrückten Klasse bringt, die Unterdrückung und die Schwierigkeiten, die wir aufgrund unserer Identität, unserer Orientierung, unserer Hautfarbe erleben.
Meine liebe Freundin, meine Genossin, meine Geliebte… Vielleicht sind wir gerade dabei, uns selbst oder die anderen zu entdecken. Unsere Brüste wachsen, uns wachsen überall Haare oder wir entdecken gerade unsere Sexualität. Es ist jedoch nicht sehr schwierig für uns zu erkennen, dass wir „anders“ sind. Vielleicht fühlen wir uns leer wegen der Verwirrung, die wir unter Tausenden von Konzepten erleben, oder wir sind unfähig, uns selbst zu lieben. Wir kommen in die Welt als Zielscheibe der schrecklichsten Ausgrenzungen, aller Formen von Gewalt, aller Formen des Hasses. Sei dir sicher, dass sich diese Ordnung ändern wird. Vielleicht nicht heute, aber morgen… Und diese Tage werden nicht kommen, indem wir uns isolieren und verstecken, sondern in aller Nacktheit, aller Freiheit, allen Farben und Stimmen auf die Straßen gehen. Wir werden uns sicher daran gewöhnen, uns gegenseitig so zu beurteilen, wie wir sind, nicht wie wir erscheinen. Alle Geschlechter und auch die Geschlechtslosigkeit zu tolerieren.
Meine liebe Freundin, meine Genossin, meine Geliebte, meine Familie… Ich schätze, das Auftauchen eines Regenbogens im dunklen Grau, inmitten von unzähligen Kämpfen, Schwierigkeiten, sozialen Lehren, scheint noch nicht ‚normal‘ zu sein, wie du es ausdrückst. Ich aber gehöre schon zu denen, die keine Probleme mit der Normalisierung haben. Ich spreche nicht von Dingen, die noch kommen werden, die man bewundern wird, die noch erworben und bevorzugt werden. Ich spreche nicht von einzelnen Dingen, von einzelnen Schuhen oder Büchern. Ich spreche von meiner ganzen Realität, meiner ganzen Natürlichkeit und meinen Zuständen. Denn seit wann ist es ein Verbrechen, eine Blume zu sein, die mitten in der Wüste blüht? Seit wann ist es ein Verbrechen, sich unweigerlich für die Gleichheit zu erheben, zu versuchen, sich zu verwirklichen?
Meine liebe Freundin, meine Genossin, meine Geliebte, meine Familie und alle anderen auf den Straßen… Nach einer Weile gewöhnt man sich an die Augen, die einen mit Verachtung, Hass oder Verwirrung ansehen. Nach einer Weile denkt man auch, dass man sich eine eigene kleine Welt aufbauen muss. Nach kurzer Zeit aber merkt man, dass man sich dem nicht mehr beugen kann, dass man sich dem nicht mehr beugen muss. Natürlich betrachten wir nicht jeden, der sich mehr um unseren Körper, unser Geschlecht und unsere Sexualität kümmert als wir, mit der gleichen Wut, dem gleichen Hass oder den gleichen seltsamen Gefühlen. Auch nicht diejenigen, die ihre Tabus nicht brechen wollen… Es gibt jedoch eine wütende Menge, die uns feindlich gesinnt ist, die uns ihre ganze Homophobie, ihren Hass, ihren ganzen angesammelten Dreck mit ihren Handlungen und nicht nur mit ihrem Auftreten zeigt… Mein Wort an alle, die uns mit ihren Blicken verurteilen, wenn wir heute auf den Straßen laufen und vielleicht sogar anfangen, uns zu beschimpfen und zu verfluchen: Eure Kinder, Eure Ehepartner:innen, Eure Partner:innen, Eure Freund:innen, Eure Genoss:innen, Eure Geliebten, Eure Familien und alle Menschen auf der Straße sind nicht so ‚normal‘, wie ihr glauben möchtet und sie werden es auch nie sein. Wir, die nicht erst seit zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren existieren, sondern zu allen Zeiten, nicht nur als Menschen, sondern überall in der Natur: wir sind das Rückgrat der Gesellschaft, mindestens so sehr wie ihr es seid. Wir haben ein Leben, das so gewöhnlich oder so ungewöhnlich ist wie das eure, so angenehm oder so unangenehm wie das eure. Wir kämpfen mindestens so viel wie ihr und wir werden weiterkämpfen.
Meine liebe Freundin, meine Genossin, meine Geliebte, meine Familie, alle anderen auf der Straße und mein lieber Gott…
Lieber Gott, ich möchte mich vor allem bei dir bedanken. Dafür, dass du mir die Chance gegeben hast, in einer solchen Farbenpracht geboren zu werden und mit einem solchen Willen zu leben. Es ist nicht so, dass ich nicht oft erschöpft bin, aber jeder Tag ist gefüllt mit neuem Lernen, neuen Entdeckungen und Befreiung. Viele Freund:innen, viele Genoss:innen, Geliebte, Familien und viele andere treten in mein Leben. Jeden Tag fließe ich irgendwo hin, durchbreche meine alten Formen, lerne mich und alle anderen neu kennen. Vor allem aber lerne ich, meine Katzen und Kinder zu lieben. Katzen und Kinder, die weit weg sind von jeder Form und jedem gelehrten Irrtum. Danke an alle, die mir geholfen haben, an diesen Punkt zu kommen, meine lieben Freund:innen, Genoss:innen, Geliebte, meine Familie, alle anderen auf der Straße, und lieber Gott. Ich danke dir am allermeisten.
An einem der buntesten Tage, in einer der hellsten Zeiten, nicht hinter dem Berg Kaf. Ich hoffe, wir sehen uns alle wieder in den geschlechts-, klassen- und grenzenlosen Welten, die wir in den Straßen errichten werden, durch die ich jeden Tag gehe, in meinem eigenen Haus, in meiner Straße.
Brief von Aslı, 23 Jahre aus Hakkari