Eine breite Protestwelle erstreckt sich seit mehreren Wochen über große Teile Irans, und auch wenn die täglichen Demonstrationen nach massiver Gewaltanwendung durch das Regime für den Moment abgeebbt sind, ist ein Ende der politischen Krise bei weitem nicht in Sicht. Was genau geht in diesem krisengeschüttelten Land vor?
Die jüngste Protestwelle begann mit dem Streik einiger Beschäftigter der Petrochemie. Schon rasch folgten Streiks in der gesamten Erdölindustrie, die für das Ölexportland Iran von enormer wirtschaftlicher Bedeutung ist. Da unabhängige Gewerkschaften in der Islamischen Republik verboten sind, haben sich mit Beginn der Aktion vielerorts spontane Komitees von Arbeiter:innen formiert, um die laufenden Streiks zu koordinieren. So konnten sie sich rasch auf einen sieben Punkte umfassenden Forderungskatalog einigen, der die schlimmsten Auswüchse des Kapitals im Privatsektor ins Visier nimmt. Der seit Jahren anhaltende Trend zum Outsourcing hat dazu geführt, dass inzwischen ein beträchtlicher Teil der Arbeiter:innen der eigentlich staatlichen Ölindustrie durch Subunternehmen prekär beschäftigt wird mit weit untertariflichen Löhnen, befristeten Arbeitsverträgen und unzumutbaren Arbeitsbedingungen. So müssen Zigtausende unter Lebenseinsatz einer Sklavenarbeit nachgehen, von deren Lohn sie ihre Familien kaum ernähren können. Der von Streikenden herausgegebene Katalog umfasst demzufolge zentrale Forderungen wie jene nach Lohnerhöhung, unbefristeter Beschäftigung, Auflösung von Subunternehmen sowie dem Recht auf Organisation, Versammlung und Arbeitskampf.
Seit Beginn der Streiks gab es massenhafte Strafkündigungen und viele Aktivist:innen berichten von Drohanrufen seitens der Sicherheitsbehörden. Doch trotz der existenziellen materiellen Not, der massiven Repressionen und der drohenden Gefahr einer blutigen Niederschlagung des Streiks, haben die Streikenden bislang nicht klein beigegeben. Mit ihrem mutigen Handeln haben sie breite Teile der iranischen Öffentlichkeit auf die brutale Ausbeutung in der wichtigsten Industrie Irans aufmerksam gemacht, was sich in zahlreichen Solidaritätskundgebungen niederschlug. Und diesen heldenhaften Kampf setzen sie unerschrocken fort.

UNRUHEN IN KHUZESTAN
Gleichzeitig kam es in der südwestlichen Provinz Khuzestannach langanhaltendem Ausfall der Wasser- und Stromversorgung bei Temperaturen von über 50 Grad Celsius zu spontanen Protesten, die innerhalb von Tagen wie ein Lauffeuer die gesamte Provinz erfassten und die Machthaber in Teheran erzittern ließen.
Die Ursachen der Khuzestan-Krise sind vielschichtig. Trotz ihres Ölreichtums und ihrer fruchtbaren Böden ist die Grenzprovinz strukturell unterentwickelt und von hoher Arbeitslosigkeit und Mangelversorgung geplagt. Zudem machen sich hier die Folgen der globalen Klimaerwärmung in Form von Extremwetterlagen, Überschwemmungen und Dürren zunehmend bemerkbar. Die Folgen staatlicher Fehlplanungen erschweren die Lage zusätzlich: Um anderenorts – und dort vor allem für die Industrie und extensive Agrarwirtschaft – die Wasser- und Energieversorgung zu sichern, hat der Staat allen Warnungen der Ökologen zum Trotz im Laufe der letzten Jahrzehnte unzählige Talsperren und Staudämme errichten lassen und so die Flüsse in Khuzestan zum Austrocknen gebracht. Inmitten einer beispiellosen Dürre wird nun Hunderten von Städten und Dörfern bei unerträglicher Hitze einfach das Wasser abgedreht. Doch damit nicht genug. Es gibt noch einen weiteren Zündstoff von entscheidender Bedeutung: Khuzestanist Heimat der arabischen Minderheit, die seit geraumer Zeit unter systematischer staatlicher Diskriminierung leidet. In den letzten Jahren hat sich die Lage der iranischen Araber:innen im Zuge der Spannungen zwischen Iran und den arabischen Golfstaaten weiter verschlimmert. All das macht Khuzestan zu einem Pulverfass, das jederzeit selbst durch einen kleinen Anstoß explodieren kann.
So kam es, wie es kommen musste. Tausende buchstäblich Dürstende gingen völlig unkoordiniert auf die Straßen, um anfangs nur für eine angemessene Wasser- und Stromversorgung zu demonstrieren. Was jedoch als spontaner Protest gegen Wasserknappheit mit der Parole „Ich habe Durst“ begann, richtete sich bald mit scharfen politischen Parolen gegen die Diktatur der Islamischen Republik. Mutige Demonstrant:innen skandierten unter anderem die legendäre Parole des Arabischen Frühlings “Das Volk will den Umsturz des Systems“ in ihrer Muttersprache Arabisch, womit sie ihrer langjähriger Forderung nach Gleichberechtigung als Ethnie Nachdruck verliehen.
Während das Regime – sichtlich geschockt – im staatlichen Fernsehen vorgab, mit Hochdruck an möglichen Lösungen des Wasserproblems in Khuzestan zu arbeiten, schaltete es als erste Maßnahme das Internet in der betroffenen Region ab und hetzte sodann seine blutrünstigen „Sicherheitsorgane“ auf die unbewaffnete und schutzlose Bevölkerung. Über die genaue Zahl der getöteten und schwerverletzten Demonstrant:innen liegen bis heute keine genauen Angaben vor. Amnesty International hat bislang den Tod von mindestens 8 Demonstrant:innen bestätigt, doch die Dunkelziffer könnte viel höher liegen. Letzten Endes misslang die angestrebte Nachrichtensperre und zahlreiche iranische Städte wurden zum Schauplatz täglicher Demonstrationen gegen das Morden in Khuzestan, von dem die internationale Öffentlichkeit indes bedauerlicherweise kaum Notiz nahm. Auch wenn am Ende vor allem durch rücksichtslose Gewaltanwendung die Demonstrationswelle zumindest für den Augenblick eindämmen konnte, verdeutlichte die Erfahrung der Khuzestan-Unruhen abermals die Ohnmacht eines Unrechtsregimes, das zusehends um seinen Fortbestand bangen muss.

DER IRAN IN DER KRISE
Erst die Pandemie, die den Iran mit unzähligen Toten schwer getroffen hat, und inzwischen in der fünften Welle schlimmer denn je wütet, dann die Massenstreiks in der Ölindustrie, die das Regime als existenzielle Gefahr auffassen muss, gefolgt von der Dürre mit beispielloser Wasser- und Stromknappheit, die in Khuzestan das Fass zum Überlaufen brachte, und nebenher das Fortbestehen der US-Sanktionen, die mitverantwortlich sind für die Misere der Ärmsten. In einer der schwersten Krisen seit seinem Bestehen kennt das Regime weiterhin lediglich eine einzige Antwort auf jegliche Opposition: Rigoroses Durchgreifen und blutige Niederschlagung. Jetzt soll auch noch ein neues Internetgesetz, welches die Informationsfreiheit der Iraner:innen massiv einschränkt, im Parlament durchgepeitscht werden. Ein weiterer Baustein in der Repressionsmaschinerie, welche die Machthaber angesichts nicht abreißender Proteste immer weiter ausbauen müssen.
Die jüngsten Entwicklungen im Iran verwerfen ein weiteres Mal die verhängnisvolle Irrtheorie gewisser linker Strömungen, welche in jedem Widersacher der USA – selbst in einer menschenverachtenden islamistischen Diktatur – einen Verbündeten im antiimperialistischen Kampf sehen. Eine derartige Haltung ist menschenverachtend, weil sie das unermessliche Leid ignoriert, das die Islamische Republik den Iraner:innen seit vier Jahrzehnten zufügt. Sie ist darüber hinaus reaktionär, weil sie die Augen vor dem verlustreichen Kampf der iranischen Arbeiter:innenklasse gegen die Ausbeutung durch die islamistische Oligarchie in ihrer neoliberalen Entfesselung verschließt. Auch der Kampf diskriminierter iranischer Ethnien ist ein progressiver Kampf gegen Unterdrückung, Diskriminierung und den Chauvinismus des islamischen Staates und für Gleichberechtigung und das Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Die proletarischen Massen müssen sich weltweit mit den andauernden Protesten im Iran solidarisieren, mit Menschen, die das eigene Leben riskieren, um für ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben zu kämpfen, mit Menschen, die mit leeren Händen einem verbrecherischen Regime die Stirn bieten. Es ist unmöglich, links zu sein und sich gleichzeitig auf die Seite der Unterdrücker zu stellen.