In Berlin hat es in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch einen versuchten Brandanschlag auf die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin mit einem Molotow-Cocktail gegeben. In der Gemeinde ist neben einer Synagoge und anderem ein Kindergarten untergebracht. Daneben wurden in den letzten Tagen vor allem in Berlin mehrfach Häuser von Jüd:innen mit dem Davidstern beschmiert. In der NS-Zeit diente diese entsetzliche Praxis der öffentlichen Kennzeichnung und Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung. Was folgte, war die nahezu vollständige Auslöschung jüdischen Lebens in Europa. Der deutsche Staat beging einen beispiellosen industriellen Massenmord an mindestens sechs Millionen Jüd:innen. Erst der heldenhafte und opferreiche Kampf der Roten Armee vermochte den Holocaust zu stoppen und dem Hitler-Faschismus ein Ende zu setzen. Doch damit war der Faschismus längst nicht vorbei. Noch heute werden wir überall in Deutschland Zeug:innen von Hassverbrechen gegen Jüd:innen.
Während der Antisemitismus ein noch immer lebensbedrohliches Problem in unserer Gesellschaft darstellt, verrückt der öffentliche Diskurs angesichts der jüngsten Ereignisse in Palästina abermals in eine fehlgeleitete Richtung. In ausnahmslos allen bürgerlichen Medien wird der Apartheidstaat Israel als der „jüdische Staat“ bezeichnet und jede israelkritische Stimme als antisemitische Hamas-Propaganda abgestempelt. Immer lauter werden Stimmen, die ein hartes Durchgreifen gegen einen angeblich „importierten“ Antisemitismus fordern. Bildzeitung und Co. hetzen ungeniert gegen Migrant:innen und die Politik liest ihnen jeden noch so vergifteten Wunsch von den Lippen ab: Hetzjagd auf Palästinenser:innen und Palästina solidarische Menschen ist seit Tagen in deutschen Städten, insbesondere in Berlin, auf der Tagesordnung. Linke Jüd:innen, die sich gegen die israelische Besatzung und die Vernichtung des Gazastreifens und der palästinensischen Bevölkerung aussprechen, wird wortwörtlich der Mund zugehalten, und gehen sie auf die Straße so trifft auch sie die Repression des deutschen Staates mit voller Wucht.
Doch was sind die tatsächlichen Ursprünge des Antisemitismus?
Antisemitismus gibt es schon seit Jahrhunderten. Jede Klassengesellschaft basiert auf Unterdrückung der beherrschten Klasse und setzt dabei unweigerlich auf Spaltungsmechanismen, um die Ausgebeuteten in Gruppen aufzuteilen und gegeneinander auszuspielen, damit sie nicht auf die Idee kommen, sich im Kampf gegen die wahren Ursachen ihres Elends zu vereinen. Aussehen, Geschlecht, „Rasse“, Religion und dergleichen sind seit eh und je gängige Spaltungskategorien, derer sich die herrschende Klasse systematisch bedient, um ihre Macht zu sichern.
Die Anfänge des Antisemitismus im antiken Rom und bis ins Mittelalter sind vor allem religiös begründet. Eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Antisemitismus spielt die Entstehung des Kapitalismus. Während andere Formen von Rassismus als Rechtfertigung für die Kolonialisierung ganzer Länder dienten, hat der Antisemitismus insbesondere bei der Entstehung von Nationalstaaten, die für die kapitalistische Wirtschaft immer wichtiger wurden, eine zentrale Rolle gespielt. Jeder Nationalismus definiert sich nicht nur über die Menschen, die er einschließt, sondern – und vor allem – auch über diejenigen, die er ausschließt. Daher braucht er innere und äußere Feindbilder. Die jüdische Bevölkerung war der perfekte Sündenbock für die meisten europäischen Nationen ob Ungarn, Frankreich, Italien oder Deutschland.
Wie in vielen anderen europäischen Nationalstaaten war auch in Deutschland der Prozess der Nationenbildung immer schon vom Antisemitismus begleitet. Doch Anfang der 1930er ging das deutsche Großkapital im vollen Bewusstsein aller Konsequenzen eine verbrecherische Ehe mit dem deutschen Faschismus ein, um die drohende sozialistische Revolution abzuwenden. Das Ergebnis: Der Zweite Weltkrieg. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde der Judenhass zur Staatsreligion. Alles Erdenkliche definierte sich über das Judentum; alle Tugenden waren antijüdisch und alle Laster jüdisch. Alle inneren und äußeren Feinde waren Juden oder Judenfreunde. Somit nimmt der deutsche Antisemitismus unter den antisemitischen Ideologien seiner Zeit eine klare Sonderstellung ein.
Dieselbe Angst vor einer sozialistischen Revolution, die wenige Jahre zuvor das Kapital dazu bewogen hatte, das Monster des Faschismus zu kreieren, führte in Nachkriegsdeutschland zu den gleichen Reflexen. Um den äußeren Schein einigermaßen zu bewahren, wurde schnell und halbherzig „entnazifiziert“, ohne jedoch das blutgetränkte Kapital der herrschenden Klasse auch nur anzutasten, während Nazis von der Stunde Null an im Kampf gegen die Sowjetunion herzlich willkommen waren und auf allen Ebenen des Staatsapparats bedenkenlos eingesetzt wurden.
Dieser von Nazis aufgebaute Staat, der Nazis überall auf der Welt zur Flucht verholfen und gedeckt hat, militärische Strukturen im faschistischen Untergrund wie den NSU mit aufgebaut und geschützt hat, von Nazis begangene Serienmorde jahrelang unter den Teppich gekehrt hat, faschistische Parteien wie die AfD und erklärte Faschisten offen agieren lässt und mitunter schützt und unzählige erklärte Nazis in seinem Sicherheitsapparat beherbergt, ja dieser Staat maßt sich an, uns als Antisemiten zu verunglimpfen und zu verfolgen. Und warum? Weil wir für das menschliche Recht auf Selbstbestimmung und ein Leben in Würde und gegen Apartheid und Kolonialismus eintreten.
Antizionismus ist nicht gleich Antisemitismus!
Seit den Angriffen der palästinensischen Widerstandsbewegung auf Israel wurde die Hetze gegen Migrant:innen auf ein neues Level gehoben. Alles, was auch nur mit einem Wort die Kriegsverbrechen Israels anprangert, die seit einer Woche am laufenden Band begangen werden, wird als antisemitisch verurteilt. Mit dieser Rechtfertigung werden seit einer Woche Palästinenser:innen und Palästina-solidarische Menschen auf den Straßen schikaniert, verprügelt und wahllos verhaftet. Insbesondere in Berlin Neukölln herrscht ein Zustand, in dem Migrant:innen Freiwild geworden sind und die Polizei regelrecht tun und lassen kann, was sie will. Dabei ist klar: Wer Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt, spielt in die Hände von kolonialer, menschenverachtender und imperialistischer Politik. Israel ist kein „Schutzraum“ für Jüd:innen. Israel mit dem Judentum gleichzusetzen, ist antisemitisch. Es sind nicht die Jüd:innen, die seit 75 Jahren ein ganzes Volk kolonialisieren, vertreiben und ermorden. Es sind auch nicht die Jüd:innen, die gerade die Menschen in Gaza offen als Tiere bezeichnen, mit weißem Phosphor bombardieren und ihnen Wasser und Strom abstellen. Nein, wer diese Verbrechen gegen die Menschheit begeht, ist der zionistische, imperialistische Staat Israel. Diesen mit dem Judentum gleichzusetzen, würde nichts anderes bedeuten als alle Jüd:innen zu kriminalisieren. Wir kennen die wahren Ursachen des Antisemitismus, wir kennen die Geschichte Deutschlands und seine untilgbare Schuld und wir werden niemals vergessen oder vergeben.
Seit Jahren beobachten wir mit zunehmender Sorge, wie der deutsche Faschismus immer stärker wird und das Leben von Linken, Jüd:innen und Migrant:innen bedroht. Bewusst schaut der Staat dieser gefährlichen Entwicklung tatenlos zu, schlimmer noch: Er hat bisweilen auf die eine oder andere Weise seine Finger im Spiel. Der NSU wurde de facto vom Verfassungsschutz aufgebaut. Etwa 600 Nazis befinden sich momentan in Deutschland im Untergrund und seit den 90ern wurden mehr als 200 Menschen von der Polizei oder von Faschisten ermordet. Nazijargon, Nazipropaganda und unverkennbar nationalsozialistisches Gedankengut werden vom Staat nicht nur toleriert, sondern salonfähig gemacht. Wenn AFD-Politiker von „entarteter Politik“ und „Denkmal der Schande“ reden, ist es natürlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dafür werden sie weder juristisch noch politisch belangt. Bayerische Politiker dürfen sogar früher Nazipamphlete verteilt haben, dafür müssen sie sich nicht einmal schämen, geschweige denn zurücktreten. Der deutsche Staat deckt und befeuert Antisemitismus, während er jede Israelkritik mit der Keule des Antisemitismus im Keim zu ersticken versucht.
Doch wir lassen uns von all der bürgerlichen und rassistischen Propaganda und Hetze nicht einschüchtern! Egal mit wie viel Repressionen sie uns zuschütten mögen, wir lassen uns nicht den Mund verbieten. Es ist nicht nur unser Recht, sondern gerade unsere Pflicht, Unrecht beim Namen zu nennen und anzuprangern. Wir handeln im Sinne aller unterdrückten Menschen unabhängig von ihrer Sprache, Religions- und Volkszugehörigkeit, wenn wir gegen Besatzung und Kolonialismus kämpfen. Der Kampf gegen Antisemitismus geht Hand in Hand mit dem Kampf gegen Faschismus, Kolonialismus und Besatzung. Und um diesen wirksam zu führen, müssen wir uns hier und jetzt gegen den deutschen Imperialismus organisieren!