„Aber der den großen Sprung machen will, muss einige Schritte zurückgehen. Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen.” Bertolt Brecht
Vor 27 Jahren entfachte die Bevölkerung von Gazi, einem der Arbeiter:innenviertel Istanbuls, das Feuer des Aufstands, das schnell auf die anderen Arbeiter:innenviertel Istanbuls übergriff. Dieses Feuer war erfüllt von der Wut der Menschen, der Wut gegen das faschistische Regime, gegen die Massaker, gegen die Unterdrückung. Es war so groß, dass es in der Geschichte der revolutionären Bewegung in der Türkei, in Kurdistan und sogar im Mittleren Osten seinen Platz einnahm. Und es war so hell, dass es auch nach 27 Jahren noch immer leuchtet und uns den Weg weist. Nicht nur in der Türkei und in Kurdistan, sondern auch hier in Europa ist es wichtig, zurückzublicken was vor 27 Jahren in Gazi geschah, welche Lehren wir daraus ziehen können und wie sie uns den Weg in die Zukunft weisen können.
Ihre Pläne liefen schief: Vom Provokationsversuch zum Volksaufstand
Der Gazi-Aufstand vom 12. März wird oft im Zusammenhang mit dem Ausmaß des „Massakers“ beschrieben, aber vor allem ist er ein revolutionärer Meilenstein in der Geschichte der Arbeiter:innen und Unterdrückten.
In der Nacht des 12. März 1995 wurden drei Kaffeehäuser im Viertel Gazi, in dem überwiegend Alevit:innen und Kurd:innen leben, von den Konterguerillakräften1 des faschistischen Staates beschossen. Ein alevitischer Dede (ein religiöser Titel im Alevitentum) wurde getötet und 25 weitere Menschen wurden verletzt.
Die 1990er Jahre sind die Jahre des Erwachens des alevitischen Bewusstseins und der Arbeiter:innenbewegungen. Besonders in diesen Jahren gab es eine starke Entwicklung, dass diese beiden sich berühren würden. Um dieses Erwachen zu verhindern, wandte der faschistische Staat seine üblichste Taktik an, nämlich Provokationsversuche durch seine illegalen bewaffneten Kräfte. Die Absicht war, dass Alevit:innen, deren Häuser angegriffen wurden, die eine bedeutende Figur in ihrer Gemeinschaft verloren haben und deren Angehörige verletzt wurden, zur nahegelegenen Moschee marschieren würden, und somit ein vorgetäuschter alevitisch-sunnitischer Konflikt heraufbeschworen werden würde. Doch die Pläne des Staates schlugen fehl. Auch durch die Bemühungen der Revolutionär:innen verlagerten die Massen, die in Richtung Moschee unterwegs waren, ihr Ziel auf den Stützpunkt des wahren Täters, auf die Gazi-Polizeiwache. Sie kämpften mit allen möglichen Mitteln und Waffen, mit vollem Willen, Entschlossenheit und Mut. Das faschistische Regime, das komplett überwältigt und verzweifelt war, schickte Soldaten in das Viertel. Sie eröffneten das Feuer auf die Menschen, und damit begann das Blutbad. 12 Menschen wurden in Gazi ermordet. In den nächsten Tagen breitet sich der Aufstand auf die anderen Arbeiter:innenviertel Istanbuls wie den 1. Mai-Stadtteil, Ümraniye, sowie Kızılay in Ankara aus.
Einer der Revolutionäre, die den reaktionären Provokationsversuch der Herrschenden in einen revolutionären Aufstand verwandelt haben, ist Hasan Ocak. Oft „Kommandant von Gazi“ genannt. Er war eines der Gründungsmitglieder der MLKP (Marxistische Leninistische Kommunistische Partei). Und mit der führenden Rolle der MLKP im Gazi-Aufstand wurde er ein besonderes Ziel des faschistischen Staates. Der Hass des Staates war so stark, dass er am 21. März von der Polizei entführt wurde. Nach seiner Entführung gab es tagelang keine Nachricht von Hasan Ocak. Am 57. Tag seiner Suche wurde herausgefunden, dass er auf dem Friedhof der Namenlosen begraben war. Er wurde tagelang gefoltert und schließlich mit einem Draht erdrosselt und begraben.
Die Bilanz des Aufstandes sah folgendermaßen aus: 22 Menschen wurden ermordet, mehr als 600 wurden verletzt. Hunderte von Revolutionär:innen wurden wegen ihrer Beteiligung an dem Aufstand lebenslang inhaftiert. Und die Täter, die ihre Hände voller Blut haben, blieben auf freiem Fuß.
Aber dieses Ergebnis sollte uns nicht in Hoffnungslosigkeit verfallen lassen. Der Gazi-Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, aber der Widerstand und der Kampf der Völker konnte und kann nicht aus den Köpfen der Menschen und aus der Geschichte der Arbeiter:innen und Unterdrückten gestrichen werden. Er war, wie der Moskauer Aufstand von 1905, ein Wegbereiter für die kommenden revolutionären Momente in der Türkei und Kurdistan, wie dem Gezi/Juni-Volksaufstand von 2013.
Nach 27 Jahren wiederholen die Völker die Forderung nach Gerechtigkeit. Auch nach 27 Jahren steht der Stadtteil Gazi immer noch unter einer strengen Absperrung durch Polizei und Staat. Denn ihre Angst ist immer noch nicht vorbei! Denn das Volk von Gazi folgt immer noch den gleichen Spuren, den Spuren von Kommandant Hasan Ocak! Denn der Geist des Aufstandes befindet sich immer noch in Gazi!
Die Mörder werden zur Rechenschaft gezogen werden! Gazi wird das Grab des Faschismus sein!
1 Konterguerilla, in anderen westlichen Ländern auch GLADIO genannt, bezieht sich generell auf die Kräfte des Staates, die eingesetzt werden, um den Kampf der Arbeiter:innenklasse zu unterdrücken, um oppositionelle Entwicklungen zu verhindern, um Banden zu fördern, die Kommunist:innen, Revolutionär:innen und Fortschrittliche ermorden, die keine Regeln kennen und die Gesetze des Staates mit Füßen treten. In der Türkei und in Kurdistan spielten sie große Rollen bei den Pogromen gegen Armenier:innen und Griech:innen, bei den Massakern von Maraş, Sivas, Çorum, Gazi sowie im schmutzigen Krieg in Kurdistan.