In Erinnerung an die, die in Gezi gefallen und gekämpft haben
1. Juni 2013: Nach langen Konflikten mit der Polizei in der Nacht, nachdem die brennenden Barrikaden die Nacht erhellten, nachdem die Straßen zum ersten Mal ihre wahren Besitzer, das Volk selbst, sahen, war das Tageslicht gekommen. Es war der erste Tag, an dem die Proteste zu einem Volksaufstand wurden, und es war der Tag, an dem der Taksim-Platz erobert wurde. Selbst nach 9 Jahren, wenn wir zurückblicken, sehen wir, dass der Gezi/Juni Volksaufstand der Wendepunkt für den AKP-Faschismus in Richtung Niederlage und für das unterdrückte Volk in Richtung Sieg war.
Vom Umweltprotest zum Volksaufstand
Am 27. Mai 2013 wurde damit begonnen, im Gezi-Park (einem der wenigen öffentlichen Parks in Istanbul, der sich im Stadtzentrum befand) in Istanbul im Rahmen des „Taksim-Fußgängerprojekts“ (das den Abriss des Gezi-Parks zum Bau einer Moschee und einer Kaserne vorsah) Bäume zu fällen. 20 Personen der Initiative „Taksim Solidarität“ und anderer Gruppen versammelten sich im Park, stoppten die Baumaschinen und begannen, im Park Wache zu halten.
Am nächsten Tag schlossen sich ihnen weitere Menschen an, die auf die Situation aufmerksam wurden. In den folgenden Stunden griff die Polizei die Demonstrant:innen an. Pfefferspray wurde aus kurzer Entfernung in die Gesichter der Menschen gesprüht, das Bild der „Frau in Rot“, die sich gegen den Angriff der Polizei aufrecht hielt, nahm einen großen Platz in den Medien ein, so dass die Situation immer bekannter wurde. Die HDP-Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder kam in den Park und stoppte auch die Bohrmaschinen. Immer mehr Menschen kamen zur Wache, und der Widerstand wuchs von Stunde zu Stunde.
Am 29. Mai erklärte Erdogan, dass er entschlossen sei, die Räumung des Parks fortzusetzen. Daraufhin griff die Polizei am Morgen des 30. Mai die Wache brutal an und verbrannte die Zelte, doch der Widerstand wuchs und wurde immer stärker. Die Proteste wurden langsam zu einem Volksaufstand auf den Straßen Istanbuls. Die Nacht des 31. Mai war der Höhepunkt, und am 1. Juni war der Aufstand real und breitete sich auf andere Städte wie Izmir, Ankara, Antakya, Dersim und Eskişehir aus.
Auf den ersten Blick stellt man sich die Frage: Wie kann sich ein Umweltprotest von 20 Personen in einen Volksaufstand von Millionen verwandeln?
Natürlich gab es einige Faktoren, die besonders stark im Mai 2013 auftraten und den Nährboden für die Entwicklung der Situation schufen: Straßenkonflikte mit der Polizei rund um den Taksim-Platz am 1. Mai und Gedenkaktionen am 8. und 16. Mai, Beschränkungen des Rechts auf Abtreibung, Zerstörung des historischen Emek-Kinos in Istanbul, Schließung des Prozesses zum Sivas-Massaker und Freilassung der Täter, Zerstörung der Natur durch Minen und Kraftwerke, Reyhanli-Massaker und Proteste dagegen, Proteste der ODTÜ-Student:innen in Ankara gegen Erdogan, Proteste der Flughafenarbeiter:innen in Istanbul, zunehmende LGBTI+-Proteste, und die Liste lässt sich fortsetzen. Und natürlich hatten zu dieser Zeit die laufenden „Friedensgespräche“ und der Dialogprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat auch eine antichauvinistische Atmosphäre geschaffen. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätten sich die vom türkischen Nationalismus geprägten Massen und die Kurd:innen nicht Seite an Seite zu einem Aufstand zusammenschließen können.
In all dem sehen wir eines: In jedem Bereich des Lebens und der Gesellschaft gab es Konflikte, gab es verschärfte Widersprüche. Unterdrückte, Arbeiter:innen, Frauen, Student:innen, Schüler:innen, Bäuer:innen, Klimaaktivist:innen, Alevit:innen, Araber:innen, Kurd:innen, Intellektuelle und LGBTI+ Personen – alle waren in irgendeiner Form unter Beschuss.
Es ist wichtig zu sehen, dass all diese Widersprüche und Konflikte aus dem Hauptwiderspruch entstehen: dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, zwischen Staat und Volk.
In solchen Zeiten können die meisten „gewöhnlichen“ Dinge die Zündschnur entfachen. So wie ein tunesischer Straßenhändler, der sich selbst verbrannte, die Aufstände in ganz Nordafrika und im Nahen Osten auslöste, hatte ein Umweltprotest von 20 Menschen den größten Volksaufstand in der Geschichte der Türkei ausgelöst.
„Die Revolution hat gezwinkert“
In den kommenden Tagen des 1. Juni hatte sich der Aufstand auf fast jede einzelne Stadt der Türkei und Nordkurdistans ausgeweitet. Die wichtigsten Autobahnen in Istanbul wurden gesperrt, Millionen liefen buchstäblich aus der ganzen Stadt zum Taksim-Platz, der nun „Taksim-Kommune“ hieß. In der Kommune hatte das Geld keine Bedeutung, die Bedürfnisse wurden durch Tausch gedeckt, das Teilen und die Solidarität waren unbegrenzt, Gesundheits-, Kultur- und Bildungsangebote waren kostenlos, die Entscheidungen wurden kollektiv mit der Beteiligung jedes Einzelnen getroffen, die Reinigung und Sicherheit wurden freiwillig organisiert usw.
Die Möglichkeit und die Realität eines freien, gleichen, geschlechtsfreien Lebens blühte in den Köpfen der Massen auf. Es war ein kleines Modell der Welt, von der wir träumen.
Eine der vielen kreativen Parolen in Gezi fasst die ganze Bedeutung des Aufstandes sehr gut zusammen: Die Revolution hat uns zugezwinkert. So wie die Revolution greifbar und sichtbar war wie nie zuvor, wuchsen auch Revolutionäre auf den Barrikaden von Gezi. Von der „Frau mit dem roten Schal“ Ayşe Deniz Karacagil bis zu Ulaş Bayraktaroğlu, die beide zu Kommandanten und unsterblich in Rojava wurden, waren Revolutionär:innen unter den Massen in Gezi, und Gezi ließ Revolutionär:innen aus den Massen wachsen.
„Dies ist erst der Anfang, weiter mit dem Kampf!“
Aufschrei von Millionen, die unter Unterdrückung und Ausbeutung leiden, gegen die faschistische Diktatur: 9 Jahre sind seit Gezi vergangen. Ein Volksaufstand. Es war ein Aufstand derer, die ein besseres und gleichberechtigtes Leben gegen die Tyrannei wollen.
Die Schöpfer von Gezi sind nicht verschwunden, der Widerstand der Unterdrückten ist nicht zu Ende. Gegen alle faschistische Unterdrückung und Terror sind diejenigen, die für eine bessere Welt kämpfen, immer noch überall. Im neunten Jahr zeigt uns Gezi immer noch den Weg. Es lehrt uns, dass der vereinte Kampf gegen den Faschismus die Voraussetzung für den Sieg ist. Die Aufgabe von heute ist es, diese Realität zu verinnerlichen und zu organisieren. Den Kampf mit großen Kosten und Aufopferungen fortzuführen, um neue Aufstände zu schaffen und zu tragen, die Organisierung zu verbreiten, die kreativen Praktiken zu bereichern und gegen die Mauern der Tyrannei zu stoßen, ist die Notwendigkeit unserer Zeit. Dies ist weder ein Traum noch etwas Unmögliches.
Wie Fidel Castro sagte: „Wenn wir verlieren, stehen wir auf und versuchen es erneut, wenn Diktatoren verlieren, ist das ihr Ende!“