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Novemberregen 

Ich verlasse die Metro und kalte Luft schlägt mir entgegen. Ein frischer Herbstwind durchzieht die Stadt, erobert die weitläufigen Straßen des Pariser Zentrums wie eine Herde galoppierender Pferde, die triumphierend den Sommer aus den letzten Ecken des Stadtlebens vertreibt. 

Der leichte Novemberregen hinterlässt einen feuchten Film auf den Haaren und belebt den Kopf. “Du bist draußen, es ist kalt, du lebst. Vergiss das nicht.” Diese Botschaft lassen die kalten Tropfen unüberhörbar in die Ohren fließen, unterstützt vom obligatorischen heißen Espresso to go in der Hand. “Du bist draußen, es ist kalt, du lebst.” 

Die letzten Blätter ergießen sich in ein buntes Farbenmeer auf dem Boden der alten steinigen Straßen. Der November lässt vergehen, damit Neues erblühen kann. 

Paris im Novemberregen. Vom Gare du Nord aus führt mein Weg vorbei an hübschen Cafés, in denen ein normaler Mensch fast einen gesamten Stundenlohn für einen Kaffee zahlen müsste. Auf der anderen Seite ein alter Mann mit nackten Füßen, der versucht, sich mit einer dünnen Decke vor dem Novemberregen zu schützen. Die Tropfen rinnen einer nach dem anderen in sein Ohr und flüstern: “Du bist draußen, es ist kalt, du lebst. Aber wie lange noch?” 

Ein kleiner Junge will ihm Geld geben, aber die Mutter gibt ihm keines. Auch meine Taschen sind leer, also laufe ich weiter durch das Gedränge der Metropole. 

Mein Weg führt rechts vorbei an einer Apotheke, ein paar Hundert Meter weiter streckt sich eine große graue Kirche anklagend dem Himmel empor. Zu ihren Füßen lungert eine Gruppe von drei, vier Leuten in einem verschlossenen Metro-Eingang und spritzt sich ihr flüssiges Glück auf Zeit in die abgemagerten Arme. “Euer Gott hat uns noch nie geholfen”, steht in ihre Gesichter geschrieben. Die dünne Decke, die teuren Medikamente, die dreckige Spritze, die graue Kirche, das elende Geld. Der Novemberregen spült über sie alle in der gleichen Weise hinweg. 

Ein telefonierender Anzugträger rempelt mich weg wie all das andere Gesocks, das die Zeit hat, langsam zu laufen auf den Pariser Straßen. Metropolen sind nichts für langsame Menschen, denn Zeit ist Geld und die Inflation nimmt uns alle auseinander.

Seit einer Stunde bin ich unterwegs; begonnen hat mein Weg wie jeden Morgen in einem der Pariser Banlieues, über die sich Genossin Ivana liebevoll lustig gemacht hat:  “Das sollen die berüchtigten Banlieues sein, habt ihr schonmal unser Duisburg gesehen?” 

Ob sie wohl auch einmal im Novemberregen den Weg zum Pariser Verein gelaufen ist? Gut möglich. Der Novemberregen spült unsere Spuren zusammen zu einem einzigen Weg, einem Flusslauf. Immer vorwärts. 

“Du bist draußen, es ist kalt, du lebst.” 

In der Kühle des Morgens realisiere ich einmal wieder das Geschenk, das dieses Leben uns macht. Der entschlossen durch die Straßen galoppierende Herbstwind macht unmissverständlich klar, dass dieser Winter kein angenehmer wird. In den Bäckerein hängen Schaubilder vom Anstieg des Getreidepreises, um den Leuten verständlich zu machen, warum das Baguette jeden Tag mehr kostet. Der Winter wird kalt, im Paris mit steigenden Mieten und Gaspreisen; aber wie kalt wird es wohl für die Genoss:innen, die in den freien Bergen mit nicht mehr als der Ausrüstung in ihren Rucksäcken ausharren und sich jeden Moment bereithalten, um unmenschliche Angriffe mit Chemiewaffen abzuwehren, um den Feind unter den schwierigsten Bedingungen zurückzuschlagen? Es wird kalt diesen Winter, für uns alle. 

Und trotzdem habe ich die Nachricht des Novemberregens im Ohr: “Du bist draußen, es ist kalt, du lebst”. 

Du lebst, weil du dich bewegst, weil du deine Ketten spürst. 

Du lebst mit den Worten von Senol in deinen Ohren: “Wenn ich nicht laufen kann, werde ich meine Arme nehmen, wenn ich meine Arme nicht benutzen kann, dann meine Gedanken, wenn das nicht geht, dann werde ich immer noch versuchen mit meinem Herzen Einfluss auf mein Umfeld zu nehmen.” 

Du lebst, weil der selbe Novemberregen über dein Gesicht strömt wie über die Gesichter all deiner Genoss:innen, aller Revolutionär:innen, überall auf der Welt. 

Du lebst, weil der raue Wind einen harten Winter einleitet, aber aus dem Asphalt eines jeden harten Winters eine Frühlingsblüte herausbrechen kann. 

Du lebst mit dem Versprechen an Senol und Ivana, den Asphalt aufzureißen und dieser Blüte, die sie gesät haben, endlich den Weg an die frische Luft zu öffnen.