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„Unsere Geschichte begann nicht erst 1988“ – Indigene Brasiliens kämpfen um ihre Existenz

Ende Mai 2023 wurde in Brasilien das Landgesetz „PL 490 – Marco Temporal“ von einer Mehrheit der Abgeordneten des Parlaments verabschiedet. 

Das Gesetz beinhaltet eine zeitliche Regelung (Marco Temporal) bezüglich der Gebiete von Indigenen in Brasilien. Es besagt, dass indigene Völker nur noch Anspruch auf Gebiete erheben können, wenn sich diese vor dem 05. Oktober 1988 am Tag der Verkündung der Verfassung in ihrem Besitz befanden. Die Bedingungen für indigenen Besitz sind dabei streng definiert: es solle sich dabei um traditionell und dauerhaft bewohntes Land handeln, was ebenfalls voraussetzt, dass es für produktive Aktivitäten genutzt wird.

Die Konsequenz, welche aus dieser zeitlichen „Regelung“ folgt, ist: Wenn indigene Gemeinschaften Gebiete nicht besetzt haben vor der Verkündung der Verfassung, verfällt ihr Anspruch darauf und wird nicht mehr als rechtmäßig gewertet, egal aus welchem Grund die Besetzung nicht stattfinden konnte.

Das kann ebenfalls zur Folge haben, dass Abgrenzungen von Gebieten, die vorgenommen wurden, hinfällig sind, weil sie nicht mit dieser Regel übereinstimmen.

Das Abkommen 169 der ILO (International Labour Organization), besagt, dass betroffene indigene Gemeinschaften über die Bebauung und damit einhergehende Veränderung von ihren abgegrenzten Gebieten ein Mitbestimmungs- und Verhandlungsrecht haben, in Gesetzesänderungen wie PL 490 also miteinbezogen werden müssen. Dieser völkerrechtliche Vertrag wird umgangen, so dass Behörden einfach Straßen, Kommunikationsnetze und Einrichtungen für Gesundheit und Bildung errichten dürfen.

PL 490 ist darüber hinaus als eine gezielte Umgehung des Artikels 231 der brasilianischen Verfassung zu verstehen, welcher den Staat dazu verpflichtet, die Gebiete, welche Indigenen zustehen zu bestimmen und zu schützen. Der vorgesehene Bestimmungs- und Abgrenzungsprozess ist bis heute nicht abgeschlossen.

Für die indigene Bevölkerung Brasiliens wird dies fatale Folgen haben: Zum einen wird ausdrücklich die vergangene Kolonisation und die damit einhergehende Vertreibung von Indigenen durch Portugal vor dem 05. Oktober 1988 untergraben, die blutigen Kämpfe von Indigenen nach der Verkündung der Verfassung werden untergraben mit denen sie die ihnen zustehenden Gebiete zurückerobern konnten. 

Das geschieht nicht einfach zufällig, sondern ist ein bewusster Vorgang, um mehr Profit auf Kosten von Menschen zu scheffeln. Es zeigt, dass Kämpfe wie die der indigenen Bevölkerung Brasiliens in einem kapitalistischen System nicht auf fruchtbaren Boden stoßen werden. Es ist sogar extrem harter Boden, denn auch wenn der Staat nachgegeben hat und in der Theorie der indigenen Bevölkerung das ihnen zustehende Land zurückgeben und es schützen möchte, bedeutet das noch lange keine dementsprechende Praxis. Dass die schon abgegrenzte indigenen Schutzgebiete in Gefahr schweben wieder zugänglich für Großkonzerne und ihre Kapitalinteressen zu sein, ist einer von vielen Weckrufen, dass erkämpfte Reformen einfach wieder zurückgenommen werden können.

Ein Beispiel dafür sind die Nachfahren der Völker Xokleng, Kaingang und Guarani, welche erst 1996 das ihnen zustehende Gebiet Ibirama La Klãnõ nach langem Kampf zugesprochen bekamen, auch sie wurden damals wie viele andere Völker von Kolonisatoren verjagt. Auch bei Ibirama La Klãnõ besteht nun die Gefahr, dass aufgrund vom Anspruch der dort bestehenden Firmen gegen die vollständige Demarkierung des Gebiets, also die abschließende Gebietszuteilung an die dort Anspruch erhebenden Völker, geklagt wird. Grundlage dafür: der Marco Temporal.

Zum anderen kann man hier von moderner Kolonisation sprechen: indem Indigene nicht auf den Gebieten ihrer Vorfahren leben können, ist es ihnen nicht möglich ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Sprache zu erhalten. Sie werden bewusst ausgemerzt, weil das brasilianische Parlament erneut entschieden hat: Geld und Profit über Menschenleben.

Betrachten wir aber auch den Umweltaspekt, so wird klar, dass durch das Umgehen von Artikel 231, durch das Zunichtemachen von Schutzgebieten, der Regenwald zur Abholzung freigegeben wird. Nicht nur, dass auf indigenen Gebieten keine Rodung stattfinden darf, sondern auch der Aspekt, dass indigene Völker das Land in einer Art und Weise bewirtschaften, dass sie ganze Ökosysteme am Leben erhalten und die Natur positiv bereichern: Das alles würde bewusst zunichte gemacht werden, auf Kosten der Umwelt, auf Kosten von uns Menschen, denn die Rodung des Regenwaldes stößt Unmengen an CO2 und anderen umweltschädlichen Gasen aus, welche in diesem gespeichert waren.

Auf den ersten Blick mag man sich über die geplante Verabschiedung des Gesetzes unter „Lula“ vielleicht wundern. Luiz Inácio Lula da Silva, kurz „Lula“, der Dezember 2022 zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt wurde, fährt augenscheinlich eine ganz andere Politikschiene als sein Vorgänger. Die Privatkonzerne sollen stärker unter staatliche Kontrolle gebracht werden, darunter ebenfalls die bisher autonome Zentralbank. Riesige Versprechungen machte Lula auch bezüglich des Regenwaldes und indigenen Menschen: während seiner Amtszeit soll der komplette Stopp der Abholzung des Amazonas vollzogen werden, auch durch die Demarkierungen, also die Abgrenzung von indigenen Schutzgebieten. Erst im April 2023 rief Lula auf dem indigenen Protestcamp „Terra-Livre“ sechs neue Schutzgebiete aus – mit Plan für weitere.

Aber diese Gesetzeslage kein Neuland: Dieses Gesetz wurde bereits im Jahr 2007 unter der Lula-Regierung formuliert, also unter der vorherigen Amtszeit des derzeitigen Präsidenten. 

Erst vor zwei Jahren erregte es unter der Bolsonaro-Regierung erneutes großes Aufsehen. Jair M. Bolsonaro befeuerte während seiner Amtszeit offen die Beschneidung der Rechte von Indigenen, indem er unter Anderem äußerte „keinen weiteren Zentimeter“ Land an indigene Völker abgeben zu wollen. Unter seiner Präsidentschaft wurde der Amazonas massiv gerodet, was zur Vertreibung von Indigenen, brutaler Gewalt und Mord gegen Indigene führte. Er begrüßte die Brände, die es in den letzten Jahren im Amazonas gegeben hat und ignorierte komplett die Bestrebungen anderer Staaten den Regenwald zu schützen, unterband Unterstützungsgelder für den Schutz des Regenwaldes von anderen Ländern.

Und diese Politik scheint auch in der gleichen Kursrichtung weiterzugehen: zwar werden die reformistischen Vorhaben Lulas auch international unterstützt, an der Umsetzung scheitert es jedoch massiv.

Seine Kritiker:innen sitzen direkt neben ihm auf den Regierungsstühlen, ihre größte Angst: der Verlust. Der Verlust von Kapital.

Die Schuld an der vorherigen Wirtschaftskrise, von der sich Brasilien gerade wieder zu erholen scheint, wird Lula zugeschoben. Seine Politik sei maßgeblich dafür gewesen, dass die Menschen in Brasilien in Armut gelebt haben und leben.

Auch der geplante Stopp der Abholzung des Regenwaldes ist den Regierungsabgeordneten ein Dorn im Auge: Der Beschluss des Gesetzes PL 490 spielt der Landwirtschaftslobby „Frente Parlamentar da Agropecuária“ kurz FPA nur so in die Hände, dabei gehören rund 300 der insgesamt 513 Abgeordnetenkammer zu dieser Wirtschaftslobby. Die jetzige Regierung ist also nicht auf der Seite Lulas, die rechte Opposition ist weiterhin sehr stark und ist sowohl bestrebt die Wirtschaft des Landes Brasilien voranzutreiben – und sich dabei die Taschen voll zu machen.

Lula fungiert hier nur als Repräsentant für das brasilianische Kapital, es wird klar, dass egal wie sozial er sich auch gibt und wie ehrlich seine Absichten sein mögen: Ihm bleibt nichts anderes übrig als ein profitorientiertes Brasilien zu regieren. Auch seine Utopie von einem klimafreundlichen, nachhaltigen Brasilien kann er mit Blick auf die Parlamentsrunde an den Nagel hängen. Die rechte Opposition wird die Bestrebungen, die ihre eigenen Kapitalinteressen im Wege stehen auch zukünftig mit allen Mitteln bekämpfen.

Indigene in Brasilien haben eine lange Geschichte von Widerständen, sei es gegen die portugiesischen Kolonisatoren Brasiliens oder erst kürzlich gegen die faschistische Politik Bolsonaros. Dieses Gesetz und auch die die noch folgen werden, werden sie, wie man anhand ihrer kürzlich geschehenen Proteste gegen PL 490 feststellen konnte, durch ihre Militanz und die Widerstandsfähigkeit nicht unbeantwortet lassen. Sie sind diejenigen, die die Umweltkatastrophen in Brasilien am nächsten zu spüren bekommen und diejenigen, die um ihr Überleben und den Fortbestand der Existenz ihrer Kulturen kämpfen müssen.

Indigene Menschen Brasiliens aber auch generell Lateinamerikas spüren am eigenen Leib wie Menschen erst nach Profiten kommen in der Prioritätenliste der Kapitalisten. Und vor allem in aller Deutlichkeit: auch ein Sozialdemokrat wie Lula wird sich am Schluss dem Kapitalismus beugen müssen, er wird den Kopf senken vor den brennenden Regenwäldern und er wird mit Bauchschmerzen sein Beileid verkünden. Er wird die indigenen Menschen in Brasilien nicht befreien, er wird die Arbeiter*innenklasse nicht befreien, obwohl er seine Partei PT, „Arbeiterpartei“ nennt. 

Wir sehen die Zerschlagungskraft der indigenen Bevölkerung in Brasilien, wie wir sie zuvor von Indigenen in Perú sahen, an vorderster Front mit erhobenen Fäusten und das obwohl auch in Brasilien mit brutaler Gewalt gegen sie vorgegangen wird: Mit Tränengasbomben, Wasserstrahlen und Gummigeschüssen ging die Militärpolizei am 30.05.23 gegen die friedlichen indigenen Demonstrierenden vor, als diese die Autobahn Bandeirantes mit brennenden Autoreifen blockierten. Es wurden bereits mehrere Aktionen durchgeführt um gegen das Gesetz zu protestieren, beispielsweise reisten im April 2023 Indigene aus ganz Brasilien an, um an alljährlichen Protestcamp „Terra-Livre“ teilzunehmen, welches dazu dient freies Land zu fordern.

Bisher ist die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs STF vertagt worden, nachdem der eigentliche Entscheidungstermin auf den 07. Juni 2023 gelegt worden war und es ist noch kein neuer Termin festgelegt.

Die Schnelligkeit des Entscheidungswillens der Abgeordneten des Parlaments lässt aber die Prognose zu, dass sie auch in Zukunft nicht davor zurückschrecken werden, einen solch folgenschweren Gerichtsbeschluss durchdrücken zu wollen. Die Vertragung eines solch einschlägigen Gerichtsbeschlusses ist auch als politische Strategie zu werten, die zur Niederhaltung der Proteste dient. So erhofft sich der Staat zukünftig ein rapides Durchdrücken des Gesetzes ohne viel Aufsehen.

Der Staat steht nicht auf der Seite der Indigenen oder auf der der Arbeiter*innenklasse. 

Egal von welchem Standort, sei es nun Brasilien oder Deutschland: Was helfen Versprechungen von einer besseren Welt seitens eines Staates, der konträr zu unseren Interessen handelt, wenn es nur schöne Worte sind, die uns beschwichtigen sollen?  Was hilft uns ein Sozialdemokrat wie Lula, wenn auch er sich dem Willen des Internationalen Kapitals beugt und dabei Faschisten erneut den Weg ebnet?

Der Kampf gegen den Kolonialismus in all seinen Erscheinugsformen ist legitim. Als Sozialist:innen unterstützen wir diesen Kampf: Weg mit dem Gesetz PL 490! Für indigene Selbstbestimmung und das Recht auf autonom verwaltetes Land!

Wir fordern, dass alle indigenen Schutzgebiete rechtmäßig an die indigene Bevölkerung zurückgegeben werden, wir fordern Menschen vor Profite!

Der kolonialistische Staat ist der gleiche, der die Arbeiter:innen und Frauen Brasiliens unterdrückt. Wir müssen den Kampf gegen das koloniale Joch anerkennen und unterstützen, nur so können wir gemeinsam für ein sozialistisches Brasilien kämpfen. 

Hoch die Internationale Solidarität! Es lebe der Widerstand der indigenen Bevölkerung Brasiliens und auf der ganzen Welt!